Liebe ist ein Kleid aus Feuer
Inhalt zu werfen. Was sich ihr offenbarte, sah alles andere als außergewöhnlich aus: ein breites, rötlich braunes Etwas, das durch langes Trocknen schrumpelig geworden war. Und dennoch stellte es eine Reliquie von unschätzbarem Wert dar, die Zunge des Täufers, der den Gottessohn erkannt und getauft hat.
Was hatte Raymond dazu gebracht, sie ihr anzuvertrauen?
Es musste blanke Todesangst gewesen sein, das wusste Rose in diesem Augenblick, nicht nur eine Ahnung, sondern die untrügliche Gewissheit, dass sein Leben bald zu Ende sein würde. Nichts anderes hätte ihn jemals zu diesem Schritt veranlassen können. Raymond musste sich sehr verlassen gefühlt haben, um das zu tun.
»Aber Gott hat uns nicht erschaffen, um uns zu verlassen«, flüsterte Rose. »Weißt du das denn noch immer nicht, alter grauer Wolf?«
Sie dachte an die Güte, die er ihr gegenüber gezeigt, an das scheue Vertrauen, das er ihr geschenkt hatte. Dann kamen ihr sein brüskes Zurückschrecken in den Sinn, wenn man ihm einmal versehentlich zu nahe gekommen war, und die alten Schatten, die sie stets um ihn herum gespürt hatte. Sie begann zu weinen und vergaß dabei keinen Augenblick das heilige Kleinod, das sie gewöhnlich unter ihrem Stroh verborgen hielt und auf dessen einfaches Behältnis sie Abend für Abend das Wertvollste legte, was sie besaß: die Lunula ihrer irdischen sowie das Kreuz ihrer himmlischen Mutter.
Und dennoch sollte dieses Kästchen nicht hier sein, versteckt in der Zelle einer jungen Kanonissin, die plötzlich nichts als Angst empfand. Die Last war zu schwer für ihre Schultern. Raymond hätte sie ihr niemals aufladen dürfen – und hatte es doch getan. Sie hatte sich sehr allein mit dieser Verantwortung gefühlt, vielleicht sogar so einsam wie er.
Aber es gab einen entscheidenden Unterschied: Sie war gar nicht allein, sondern eine von vielen, ein Glied in einer langen, starken Kette, deren Glieder sich gegenseitig hielten und stützten. Gerberga hatte ihr diesen tröstlichen Gedanken nahe gebracht. Die kluge Gerberga mit den veilchenblauen Augen, die Nichte des Königs.
Rose spürte, wie eine Ahnung von Lebendigkeit in ihre steifen Glieder zurückkehrte. Und beinahe so etwas wie Zuversicht, die wie ein zartes Pflänzchen erneut in ihr zu keimen begann.
Sie hatte Raymond Stillschweigen gelobt und würde niemals ein gegebenes Versprechen mutwillig brechen. Und doch gab es Ausnahmen: Versprechen, die man nicht halten durfte, wenn man nicht noch größeres Unheil anrichten wollte. Sie brauchte Hilfe, um sich für das Richtige zu entscheiden. Und plötzlich war ihr auch klar, woher diese Hilfe kommen konnte.
Langsam erhob sie sich und wischte die Tränen ab. Nach wie vor ziemlich unsicher auf den Beinen, säuberte sie sich sorgfältig über der Waschschüssel und zog ein frisches Gewand aus der kleinen Holztruhe. Während sie den Schleier festband, waren ihre Hände noch immer zittrig, als sie aber nach dem Kästchen langte und den Deckel sorgfältig wieder verschloss, bereits wieder einigermaßen ruhig.
Sie kniete nieder und rief die Gottesmutter in einem kurzen, leidenschaftlichen Gebet um Kraft und Klugheit an. Danach verließ sie ihre Zelle.
Gerbergas Gemach lag in der Mitte des langen Flurs; Rose war oft genug dort gewesen, um zu wissen, dass die künftige Äbtissin von da aus den schönsten Blick auf den blühenden hortus hatte, der das Herzstück des Stiftes bildete.
Sie atmete tief aus, klopfte dann kräftig an.
Mit einem Lächeln öffnete Gerberga die Tür.
»Rose!«, sagte sie erstaunt. »Ich hatte eigentlich Riccardis erwartet.«
»Soll ich wieder gehen?«
»Nein, bleib, bleib! Sie hat es wohl vergessen. Und ich kann auch später zu unseren Armen reiten.« Ihr Blick flog zu dem Holzkästchen, das Rose in der Hand hielt, dann zurück zu ihrem Gesicht. »Du hast ja geblutet«, sagte sie. »Und was ist mit deinem Zahn geschehen? Bist du etwa wieder …«
»Mach dir deshalb keine Sorgen!«, sagte Rose. »Das alles ist nichts.«
»Nichts?«, wiederholte Gerberga.
»Nichts!«, bekräftigte Rose mit fester Stimme. »Aber das, was ich dir hier bringe, ist alles – und noch viel mehr.« Sie streckte ihr das Kästchen entgegen. »Darf ich hereinkommen, Gerberga?«
Die Nichte des Königs trat einen Schritt zurück. »Du bist willkommen, Schwester«, sagte sie.
AUGUST 952
AUGSBURG
»Lass mich allein reiten, Vater! Die Königin hat mich gerufen. Von Adelheid droht mir keine Gefahr. Ich weiß, dass ich ihr
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