Liebe Ist Nichts Fuer Feiglinge
still am Grab, bis sie sagte: »Ich gehe nie alleine hierhin, weißt du?«
»Ja, ich weiß. Deshalb bin ich ja mit dir gekommen.«
»Und du?«
»Ob ich alleine hierherkomme? Ja, ständig. Manchmal überlege ich, ob ich hier nicht picknicken soll. Ich könnte mir auch eine Liege mitbringen und ein Sonnenbad neben seinem Grab nehmen.«
»Das wäre ziemlich merkwürdig!«
»Nun, ich habe es nie gemacht, aber ich habe darüber nachgedacht. Es ist so friedlich, hier mit ihm zusammen zu sein. Ich kann ihm immer alles erzählen.« Ich blickte Grandma an. »Machst du das auch?«
»Ich könnte es, aber ich habe es nie gemacht. Er hatte auch so schon genug Sorgen, ohne dass ich ihn noch mit meinen Problemen belästigen musste.«
»Oh, Grandma, das ist doch albern. Ihr wart euch doch wirklich nahe.« Unsere Beziehung zu Grandpa zeigt einmal mehr die Unterschiede zwischen Grandma und mir auf: ihre vorsichtige Art und meine Beherztheit. »Ich habe es wörtlich genommen, als er mir gesagt hat: ›Du kannst alles tun, was du willst.‹«
»Das weiß ich!« Sie lacht.
»Aber das mit dem Picknick muss ich noch machen.«
Als wir nach Hause kommen, stellt Grandma beide Paar Schuhe an die Heizung und holt mir warme Socken. Als mein Bruder mich abholen kommt, umarmt Grandma mich besonders fest und blickt mich ernst an. »Du hast mich heute gerettet.«
Dabei hat sie sich selbst gerettet, indem sie den Arzt angerufen und ihre Einstellung zu ihrem Körper verändert hat. Alles für meine Gesundheit. Eine Frau hat die Pflicht, sich körperlich und geistig gesund zu erhalten.
Grandma mag sich selbst gerettet haben, aber vielleicht hat sie heute auch mich gerettet.
11
Geht nie im Zorn auseinander
Durch den Spalt in meinen Vorhängen sehe ich, dass dies ein Samstag ist, auf den die meisten Leute das ganze Jahr über warten. Im Baum vor dem Fenster zwitschert ein Vogel.
Mein Wecker zeigt an, dass es fast Mittag ist, und als das Summen des Rasenmähers in der Nachbarschaft verstummt, höre ich auf dem See das Plätschern von Booten. Zehn Jahre war ich am Memorial Day nicht mehr zu Hause. Diese wenigen perfekten Wochenendtage, die den Beginn des Sommers am Treasure Lake einläuten.
Das Wetter passt nicht zu meiner Stimmung. Die letzten zwei Stunden habe ich weinend im Bett verbracht. Immer noch laufen mir Tränen übers Gesicht, und ich empfinde das Schluchzen als qualvoll und befreiend zugleich.
Ich kenne dieses Gefühl: Ich bin verliebt.
Am Vortag wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte, als Chris’ Partner Joe, in dessen Praxis er gearbeitet hatte, mich zu Chris’ Abschiedsessen in seinem Haus eingeladen hatte. »Du bist herzlich willkommen. Du warst in den letzten Wochen eine wichtige Stütze in der Praxis.«
»Oh, danke, Joe.« Ich tat beiläufig, aber mein Blick glitt zu Chris. »Das ist sehr großzügig von dir.«
»Du kommst also?«, fragte Joe. »Oh, bitte, ich grille nämlich!«
Ich hätte gerne mit Chris darüber gesprochen, denn ich wusste wirklich nicht, ob ich zu diesem Essen mit allen Angestellten gehörte. Aber logistisch gesehen, machte es Sinn, schließlich fuhr Chris mich abends immer nach Hause. »Ja, schrecklich gerne«, erwiderte ich.
Einen Monat zuvor, als Chris von seiner letzten Asienreise zurückkam, hatte er gesagt, er wolle mir ein Gesichtspeeling machen. Das überraschte mich, weil ich wusste, dass seine Patientinnen dafür zwischen dreihundert und fünfhundert Dollar bezahlten. »Das ist ein großzügiges Angebot von dir«, sagte ich zu ihm. »Aber ich weiß nicht, ob ich es mir im Moment leisten kann.«
Er blickte von einer Röntgenaufnahme auf, die er gerade studierte. »Kris, du würdest mich beleidigen, wenn du mir Geld anbieten würdest.«
Er wollte es kostenlos machen! Als ich Grandma davon erzählte, zuckte sie mit den Schultern und meinte: »Dann nimm ihn doch beim Wort. Die meisten Frauen würden dafür Schlange stehen!« Ja natürlich, ich werde sein Angebot annehmen, dachte ich. Aber dann kam mir ein anderer Gedanke: Warum bot er mir ein Gesichtspeeling an? Hatte ich es so nötig, dass er keinen anderen Ausweg mehr sah? Ja, genau, wenn er mich ansah, bemerkte er nur meine Makel. Die Falten auf meiner Stirn, wenn ich zu lange am Computer gesessen hatte, und mein Kinn, das immer wieder anfällig für Pickel war.
Ich errötete vor Zorn, aber dann fiel mein Blick auf die Fotografie meines Großvaters. Lächelnd stand er da in Anzug und Krawatte. Krissy, Krissy, seufzte er. Wie oft
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