Liebe ist stärker als der Tod
Madame Coco anfangen sollte. Er war sicher, daß sie bereits auf der Lauer lag, ein massiges Tier, das diesen Eingang bewachte, als führe er direkten Weges in das Paradies. Es war immer wieder erstaunlich, wie allgegenwärtig Madame Coco war. Es gab nichts in der Rue Princesse, was sie nicht wußte, und es gab überhaupt nichts, was in ihrem Hause als Geheimnis gelten konnte. Ein Muster von einer Concierge, eine Mutter für ihre ›Kinder‹ – so nannte sie jeden Mieter – und eine feuerspeiende Furie für jeden, der nach ihrer Meinung nicht in ihr Haus paßte. Es gab für alles und jeden nur den Weg über Madame Coco. Wie der Fährmann in der Unterwelt nahm sie jeden am Eingang in Empfang.
Pierre zuckte zusammen. Ev hatte sich gegen ihn gelehnt, sie war so schwer, daß ihm die Bilder fast aus den Händen rutschten.
»Wann gehen wir?« sagte sie mit fast kindlicher Stimme. »Ich falle um vor Müdigkeit. Ich schlafe im Stehen ein …«
»Sofort.« Pierre ließ die Bilder an sich hinunterrutschen, faßte Ev um die Taille und führte sie zum Haus. Der dicke Hund hob den Kopf, glotzte Pierre an, wedelte mit einem schrecklich langen, haarlosen Schwanz und fiel dann wieder in den Sonnenfleck zurück.
Aus der Dunkelheit des Flures wälzte sich ein Ungeheuer. Mit Mühe riß Ev ihre Augen auf, die Lider waren wie mit Blei gefüllt, sie krallte sich in Pierres Ärmel und blieb stehen.
Eine Wolke feuerroter Haare wehte auf sie zu. Ein Faß voll süßlichen Parfüms schien sich vor ihnen zu leeren. Etwas, das wie ein Körper aussah, verstopfte den Flur, umrankt von Stoff und einer großgepunkteten, blauweißen Schürze. Und eine Stimme, in der sich Türme aus Zigarrenkisten verewigt hatten, schlug ihnen entgegen wie ein rauher Lappen.
»Pierre – was schleppst du da 'ran?!«
»Madame Coco –«, sagte Pierre. »Das, Ev, ist Madame Coco. Unser aller Mutter. Ohne sie wäre ich noch weniger, als ich bin.«
»Diese Lobrede, Mademoiselle, kostet mich zehn Francs, das kenne ich!« Madame Coco trat Pierre auf die Füße, schob ihn von Ev weg und beugte sich vor, um sie genauer betrachten zu können. Es war die Musterung, die alles entschied.
»Ich bin müde –«, sagte Ev und lehnte sich gegen die schmutzige Flurwand. »Verzeihen Sie, Madame. Ich schlafe gleich ein …«
»Sie wollte sich das Leben nehmen«, sagte Pierre. »Ich habe es nicht fertiggebracht, das mit anzusehen …«
»Das Leben nehmen?« Madame Coco zog den feuerroten Kopf zurück. Der Berg hatte plötzlich auch Arme und Hände, und die griffen zu, zogen Ev von der Wand und hielten sie in der Mitte des Flures fest wie eine Fahnenstange. »Dann ist sie bei mir richtig!«
*
Madame Coco verkörperte das, was bereits weitgehend ausgestorben ist und eigentlich in dieser Form nur noch in Paris, vor allem auf dem Montmartre, in Quartier Latin oder hier, in Saint-Germain-des-Prés, anzutreffen ist: Die große Mutter mit dem alles wissenden, alles verstehenden, alles verzeihenden Herzen. In Ermangelung eigener Kinder (man erzählte sich, daß Madame Coco, als sie noch gut bürgerlich Cosima Lebrun hieß und Frau eines Dachdeckers war, der nach dem neunten Ehejahr vom Giebel einer Kirche abstürzte, zwei Jahre total gelähmt dahinvegetierte, bis Cosimas stille Gebete gehört wurden und er friedlich einschlief, zwei Kinder in die Welt gesetzt hatte. Eine Tochter – sie wanderte mit einem amerikanischen Soldaten gleich nach dem Krieg aus und blieb von da an verschollen – und einen Sohn, der während eines Ferien-Schullagers auf rätselhafte Weise in der Loire ertrank) verteilte also Madame Coco ihre massive Liebe an die Künstler des ›Viertels‹, die oft bei ihr in der dumpfen Concierge-Wohnung hockten, einen Apéritif schlürften, ein Glas Pinot noir tranken und das harte Gebäck knabberten, das Madame in großen Blechdosen aufbewahrte. Sie buk zweimal im Jahr einen Berg von Plätzchen: zu Ostern und Weihnachten. Die Blechdosen reichten dann immer genau bis zum neuen Backmarathon. Dafür erfuhr Madame Coco das ganze Leid dieser Welt. Bei ihr weinte man sich aus, bei ihr diskutierte man, an ihrem Küchentisch veränderten Feuerköpfe die ganze Welt. Sie war der seelische Schuttabladeplatz von Saint-Germain-des-Prés … aber sie war auch der Engel, der Rat und Hilfe austeilte und der keinen einsam ließ, wenn er menschliche Wärme suchte.
»Du hast ein Problem, Pierre«, sagte Madame Coco, als sie Ev halb tragend, halb schleifend in die Küche gebracht
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