Liebe ist stärker als der Tod
ihm auch nicht übel, daß er ein unhöflicher Lümmel ist. Ein Kretin! Ein Eckenpisser! Er bleibt unser bester Freund. Verzeihen wir, daß wir heute störten –«
Er machte vor Ev eine durchaus artige Verbeugung, strafte Pierre mit Mißachtung, winkte den anderen und stampfte zur Tür. Die Dielen zitterten. Er wog seine guten zweihundert Pfund.
»Gott hat die Menschen erschaffen, damit sie sich gegenseitig ankotzen«, sagte das ›Gebetbuch‹ fromm. »Mademoiselle, wenn Sie eines gütigen Zuspruchs bedürfen – Madame Coco kennt meine Adresse. Ihnen wird Tröstung zuteil werden.« Er folgte dem ›Roten Henry‹, drehte sich in der Tür aber wieder um und wartete auf Ponpon.
Was kann ein Schlangenmensch auf solch große Worte noch folgen lassen? Der Einäugige machte eine seitliche Verdrehung, als habe er kein Rückgrat, ließ sein Auge blitzen und hüpfte durch das Zimmer wie ein verkrüppelter Storch. Hinter ihm warf das ›Gebetbuch‹ mit lautem Knall die Tür zu.
»Warum haben Sie das getan, Pierre?« fragte Ev. Sie saß noch immer auf dem Bett, hielt das Glas Pinot noir in der Hand, und erst jetzt sah Pierre, daß es ein zweites Bett war, das sicherlich Madame Coco aufgeschlagen hatte.
»Was?« fragte er und stellte die Tüte auf die Dielen.
»Sie haben Ihre besten Freunde hinausgeworfen.«
»Sie haben sich benommen wie Urwaldaffen. Bitte, verzeihen Sie, Ev, daß ich das nicht verhindern konnte.«
»Ich fand Ihre Freunde nett und amüsant. Der mit dem langen roten Bart …«
»Der ›Rote Henry‹ –«
»Warum liest keiner seine Geschichten?«
»Warum hängt sich niemand einen Pierre de Sangries an die Wand?«
»Der Theologe …«
»Das ›Gebetbuch‹ –«
»Er hat lustige Ideen.«
»Die Abschaffung der Kirchen. Aber in den Semesterferien reist er quer durch das Land, von Kathedrale zu Kathedrale, und sitzt bewundernd und betend im Chorstuhl. Lauter Verrückte, Ev …«
»Nicht verrückter als Sie, Pierre.«
»Da haben Sie recht.« Er öffnete die Tüte und hielt eines der Kleider hoch. »Ich bin eifersüchtig, Ev. Ich gönne keinem anderen Mann den Anblick, wenn Sie dieses Kleid zum erstenmal tragen …«
»Ich? Sie haben es für mich gekauft?« Sie stellte das Glas Pinot noir auf die Dielen neben das Bett. »Pierre, Sie sind wirklich total verrückt! Natürlich haben Sie es gestohlen!«
»Mit Tüte und Kassenbon? Ev … Callac hat drei Bilder von mir gekauft! Das ist für einen Künstler, als wenn ein Blinder in Lourdes wieder sehen lernt.«
»Und sofort schmeißen Sie das Geld mit vollen Händen 'raus –«
»Ich habe Ihnen zwei Kleider gekauft, Ev … das nennen Sie Verschwendung? Sie haben mir Glück gebracht … und ich – ich hoffe, daß auch ich Ihnen –« Er suchte nach Worten, kam sich ungeheuer dumm vor und hielt das Kleid so hoch, daß er sein Gesicht damit verdeckte. »Ev – es sind billige Kleider, ich gestehe es … aber sie werden Ihnen stehen. Ich weiß es. Und einmal wird die Zeit kommen, wo ich Ihnen Kleider von Yves Saint-Laurent oder Schiaparelli kaufen kann und einen Pelz von der Rue Faubourg Poissonière –«
»Sie reden dummes Zeug, Pierre.«
»Ich weiß es.« Er kam näher zu ihrem Bett, das Kleid noch immer hochhaltend. »Ich will, daß Sie Ihre bisherigen Kleider vergessen …«
Sie verstand ihn, zog an dem Kleid und sah ihn groß an, als sein Gesicht hinter dem bunten Baumwollstoff wieder auftauchte. »Nichts –?« fragte sie sanft.
»Nichts.« Pierre schüttelte den Kopf.
»Sie haben den Butler James nicht sprechen können?«
»Nein. Ich habe mich nur den beiden Doggen bekanntgemacht.«
»Jimmy und Jacky …«
»Zu einem Namensaustausch sind wir nicht gekommen.«
»Drehen Sie sich um, Pierre.«
Sie nahm ihm das Kleid aus den Händen, er wandte sich ab und ging zu der großen Fensterwand. Draußen fiel die Abenddämmerung über die Dächer von Paris, die schräge Sonne zauberte metallene Reflexe über die Schindeln und Ziegel, aus den Fenstern wurden schimmernde Quadrate und Rechtecke, leuchtende Augen eines Riesentieres.
»Fertig«, sagte Ev.
Pierre drehte sich langsam um. Das Kleid war etwas zu lang, die Verkäuferin im Warenhaus war anscheinend größer gewesen, aber sonst sah es wunderschön aus, nicht gerade elegant wie die Damen auf den Champs Elysées, aber auch nicht ärmlich.
»Den Saum nähen wir drei Zentimeter um –«, sagte sie. »Und das zweite Kleid tauschen wir um …«
»Sie haben recht.« Pierre hob die Schultern.
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