Liebe ist stärker als der Tod
Ordnung, nachmittags besuchte er Ev im Hôpital Laennec, saß an ihrem Bett, fühlte die Schwere seiner Liebe, die auf seinem Herzen lag und den Atem hemmte, holte dann Bouillon ab, der unten in der Pförtnerloge wartete und jeden Tag ein Brot mit dem Pförtner teilte, und dann trotteten sie gemeinsam, nebeneinander, durch die naßglänzenden Straßen, drückten sich, wenn es regnete, an den Hauswänden entlang, kehrten ab und zu in einem billigen Bistro ein und tranken einen Pernod (Bouillon bekam eine lauwarme Bouillon, als wisse er, was er seinem Namen schuldig sei) … es war ein glückliches rundes Leben. Am fünften Tag kam Ev auf dem Flur Pierre entgegen. Es war eine überwältigende Überraschung, sie breiteten die Arme aus und rannten sich entgegen, fielen sich um den Hals und küßten sich, und Schwester Amélie weinte verstohlen. Dann besuchten sie Bouillon in der Pförtnerloge. Der häßlichste Hund von Paris wurde zum verrücktesten Hund, überkugelte sich vor Freude, jaulte und schielte dabei gottserbärmlich.
Am Abend besuchte zum ersten Mal Madame Coco das Hôpital Laennec. Sie kam nicht allein. Ponpon, der ›Rote Henry‹, ›Das Gebetbuch‹ und Fürst Globotkin begleiteten sie. Madame hatte sich festlich gekleidet: Ein Zirkus hätte ihretwegen eine Sondervorstellung gegeben. Der Pelzmantel, den sie trug, war bestimmt wertvoll, aber sie sah darin aus wie eine haarige Kugellawine.
Ein Krankenhaus ist vieles gewöhnt, aber dieser Aufmarsch beeindruckte selbst die hartgesottensten Mediziner. Nur die Schwestern erstarrten in Ehrfurcht, als ›Das Gebetbuch‹ salbungsvoll zu ihnen sagte: »Und ER stieg von dem Berg und tröstete die Gebrechlichen und erquickte die Dürstenden …«
»In acht Tagen werde ich entlassen«, sagte Ev, als sie alle um sie herum in ihrem Krankenzimmer saßen. »Dann werden Pierre und ich nach Deutschland fahren. Zu meinen Eltern. Pierre weiß es noch nicht. Es ist mein Weihnachtsgeschenk …«
An diesem Abend kam es auch zu einer Begegnung zwischen Madame Coco und Professor Mauron. Genauer gesagt, Madame walzte die Vorzimmerdame nieder, riß die Tür zum Chefbüro auf und ertappte Mauron dabei, wie er sinnend auf einem der alten Lederstühle saß und ein Bild betrachtete, das er in Augenhöhe vor die Bücher der Regalwand gestellt hatte. Pierre hatte es ihm am Nachmittag gebracht, eines der Bilder, das er nur für Ev und sich gemalt hatte. Ein simples Bild: Eine Wiese mit einem weiten Himmel, und in dieser unendlichen Natur Ev, wie aus den Blüten wachsend.
»Ist er begabt?« sagte Madame und stellte sich hinter Professor Mauron. »Oder kaufen Sie auch nur Bilder, die ein besoffener Affe hätte malen können?«
»Sie sind Madame Lebrun?« sagte Mauron und blickte weiter auf das Gemälde. »Monsieur de Sangries hat viel von Ihnen erzählt. Warum erkennt keiner das Talent des Mannes?«
»Warum? Fragen Sie mich? Wieviel Maler gibt es in Paris, na? Sie haben es einfacher. Sie fuhrwerken mit einer Kurette herum und schicken dann die Rechnung. Sind Sie nur Frauenarzt?«
»Ja, Madame.«
»Trotzdem! Pierre gefällt mir nicht. Er ißt und wird immer dürrer. Manchmal hat er gelbe welke Haut wie eine vergreiste Hure. Drücke ich mich klar aus?«
»Ungemein plastisch, Madame.« Professor Mauron drehte sich zu Madame Coco herum. »Sie sollten ihn zu einem Internisten schicken.«
»Er geht zu keinem Arzt.«
»Und wenn der Arzt zu ihm kommt?«
»Man müßte ihn narkotisieren, um ihn zu untersuchen.«
»Haben Sie schon mit Mademoiselle Bader darüber gesprochen?«
»Noch nicht.«
»Sie scheint seine ganze Welt zu sein. Versuchen Sie es über diesen Umweg, Madame …«
Madame Coco blieb eine halbe Stunde bei Professor Mauron. Als sie ging, begleitete er sie zum Erstaunen der Vorzimmerdame bis zur Treppe und küßte ihr sogar die Hand.
Vor der Klinik warteten die anderen mit zwei Taxis.
»Na, was ist?« fragte Wladimir Andrejewitsch. »Stimmt das mit den Bildern?«
Madame gab keine Antwort. Sie riß die Tür von Fürst Globotkins Wagen auf, setzte sich mit großer Würde und winkte Wladi zu.
»Taxi!« rief sie energisch. »Rue Princesse! Und mogeln Sie nicht! Auf dem kürzesten Weg! Ich kenne Paris!« Sie lehnte sich zurück und blickte triumphierend um sich, »Ha! Es ist ein Genuß, einmal wieder als Dame behandelt worden zu sein!«
*
Eva Bader wurde eine Woche vor Weihnachten entlassen. Es war, als hole man einen Star ab oder die Frau eines Staatschefs. Globotkins
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