Liebe ist stärker als der Tod
man ein wenig Kritik üben: Per Funk hatte man in Köln sehr schnell Pierre verhaften lassen, aber seine Freilassung nach diesem großen Alibi hatte man nicht so eilig. Hier benachrichtigte man die Kölner Kollegen erst am nächsten Morgen, vielleicht nach dem übernationalen Obrigkeitsdenken, daß eine Nacht in einer Zelle keinem schaden kann, sondern eine staatsbürgerliche Lektion ist.
»Es tut uns leid«, sagte der Kommissar vom Dienst in Köln, als der Funkspruch aus Paris eintraf. »Die Kollegen in Paris geben grünes Licht. Aber bei Mord … Sie verstehen … man kann nie vorsichtig genug sein. Na ja, nun ist ja alles gut. Fröhliche Weihnachten, Fräulein.«
Ev saß auf einer Bank im 1. Mordkommissariat und hatte dort die ganze Nacht ausgehalten, obgleich das gegen die Dienstvorschrift war. »Sie kriegen mich hier nicht wieder weg, bis sich Pierres Unschuld herausgestellt hat!« hatte sie gesagt. Und sie hatte es so gesagt, daß keine Zweifel an ihrem starken Willen aufkamen. »Wenn Sie mich entfernen wollen, müssen Sie das schon mit Gewalt tun.«
Das aber wollte niemand. Und so blieb sie auf der Bank sitzen, die ganze Nacht, trank mit dem Nachtdienst starken Kaffee und bekam ein Brot mit Mortadella, las die ersten Exemplare der Morgenzeitungen, noch nach Druckerschwärze riechend, und hörte den Polizeifunk mit. Morde passierten in dieser Nacht keine … Köln war nicht New York oder London. Am Rhein lebt man zu gern, und wenn einer mordet, sind's meistens Auswärtige, Zugereiste, Nichtkölner.
Gegen neun Uhr vormittags wurde Pierre entlassen. Er hatte nicht erwartet, daß Ev die ganze Nacht auf der Polizei verbracht hatte, sie fielen sich in die Arme, küßten sic h, als sollten sie für ewig getrennt werden, und erst als der Kommissar vom Dienst sich räusperte und gemütlich sagte: »Pardon, aber ein Bett können wir nicht zur Verfügung stellen«, fuhren sie auseinander und schämten sich ein wenig.
Bei Baders war der Empfang trauriger. Hubert Bader war in Frechen bei dem Bürohaus, das neue Möbel bestellen wollte und hatte hinterlassen, daß er bestürzt sei. Da man ein Geschäft wie diese Büromöbel nicht aus der Hand geben kann, hatte er ebenfalls hinterlassen, daß man über diesen Pierre am Abend eingehend miteinander sprechen wolle. Zwei Anrufe bei der Kriminalpolizei hatten keinen Erfolg gehabt. Dort gab man keine Auskunft.
»Typisch!« hatte Hubert Bader gesagt. »Da ist man in einen Mordfall verwickelt und bekommt noch nicht mal gesagt, wer wen umgebracht hat. Es wird immer toller mit unserer Polizei! Früher –«
Zum erstenmal seit einunddreißig Jahren hatte Else daraufhin ihren Mann stehen lassen und war in die Küche gegangen. Erstaunlicherweise kam Hubert Bader am Mittag nach Hause und aß nicht schnell eine Currywurst mit Pommes frites nebenan in einem Stehrestaurant, genau zehn Schritte von seinem Möbelgeschäft entfernt.
»Nanu!« sagte er in einem Anflug moderner Ironie. »Da sitzt ja unser Mörder und trinkt Kaffee!« Und als Ev etwas erwidern wollte, winkte er energisch ab. »Ich glaube, hier ist vieles zu erklären. Ich habe mich notgedrungen an deine moderne Lebensauffassung gewöhnen müssen, Kind, aber einen mordverdächtigen Schwiegersohn schluckt man nicht so leicht. Also, was ist?«
Es dauerte bis zum Nachmittag, ehe Ev und Pierre, einmal deutsch, einmal französisch in deutscher Übersetzung, ihre getrennte und dann gemeinschaftliche Geschichte erzählt hatten. Die Stunde auf dem Arc de Triomphe sparten sie aus, ebenso die verdammte Party des Jules Chabras, auf der er vierzehn Freunde präsentierte, die alle mit Ev geschlafen haben wollten. Auch das Kind ließen sie weg und den Abortus … übrig blieb, daß Jules Chabras hinter Eva hergewesen war und daß sie gekündigt hatte, um seinen immerwährenden Nachstellungen zu entgehen. Pierre hatte sie dann später in einem Straßencafé am Seine-Ufer kennengelernt, ganz romantisch, pariserisch und sittsam.
Das ist keine Lüge, beruhigte sich Ev selbst und schielte zu Pierre hinüber. Warum sollen wir sie aufregen, warum aus ihrer heilen Welt aufschrecken? Es ist vorbei, und es wird nicht besser, wenn man darüber spricht.
Hubert Bader allerdings genügte es. Zum erstenmal seit genau sechs Jahren (so erinnerte sich Else mühsam) verpaßte er das Nachmittagsgeschäft im Möbelhaus und überließ es seinem 1. Verkäufer, Max Plaschke.
»Ich war immer gegen Paris«, sagte Hubert Bader nach dieser ›Beichte‹.
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