Liebe ist stärker als der Tod
Geschäft ging gut!), es roch nach Pfefferkuchen und selbstgebackenem Stollen, es gab gefüllte Gans mit Rotkohl, und nach dem Essen sollte es statt Wein französischen Champagner geben, auf dem Plattenspieler lag eine Langspielplatte mit Weihnachtsliedern, gesungen vom Tölzer Knabenchor (wenn Hubert Bader diese Platte hörte, wurde er besinnlich und sehr weich), und auf verschiedenen Tischen waren die verpackten Geschenke gestapelt, mit Tannenzweigchen und Schleifchen.
Völlig normale Weihnachten … nur Hubert Bader war nicht im Haus.
Wie jedes Jahr hielt er in seinem Möbelgeschäft als letzter aus, wenn alle anderen Läden schon geschlossen hatten. Das war ein segensreicher Trick, denn gerade an diesem Abend kamen die anderen Geschäftsleute und kauften noch schnell bei Hubert Bader teure Kleinigkeiten, Gläser, Barockuhren, venezianische Spiegel, Teppichbrücken aus Keshan oder Goum, geschnitzte Tischchen, Gobelins … es läpperte sich am Heiligen Abend ganz schön zusammen. Hinzu kamen die Lieferungen, die als Überraschung gedacht waren. Vier Möbelwagen der Firma Bader waren bis zum Glockenläuten unterwegs und lieferten Schrankwände ab, Schreibtische oder Polstergarnituren.
Vom Himmel hoch, da komm ich her –
Es wurde doch noch ein schöner Abend, wenn auch ziemlich spät. Bei Kerzenlicht vom Weihnachtsbaum ließ man den Tölzer Knabenchor singen, und als die Platte zu Ende war, sagte Hubert gerührt: »Kinder, auch wenn ich altmodisch bin: Ich wünsche euch viel Glück!« Dann küßte er Eva, drückte Pierre an sich und überreichte beiden einen Zettel:
Gutschein für ein Auto (aber keinen Rolls-Royce).
»Ich danke dir, Paps«, sagte Ev leise. »Du bist ein wundervoller Vater.«
Es war der Augenblick, in dem Hubert Bader rötliche, wäßrige Augen bekam.
*
Am 29. Dezember fuhren Ev und Pierre wieder zurück nach Paris. Hubert Bader konnte nicht mit zum Bahnhof, er hatte dringende Nachlieferungen mit zwei Einbauküchen. Dafür weinte Else am Bahnsteig und rief Ev am offenen Fenster nach: »Denkt dran, hier habt ihr immer ein Zuhause!«
Dann saßen sie allein im Abteil 1. Klasse (das hatte Hubert Bader bezahlt), fuhren der Grenze entgegen und sahen hinaus auf die verschneiten Felder und Dörfer, Wiesen und sanften Hänge.
»Du hast sehr liebe Eltern«, sagte Pierre plötzlich. »Sie haben mich aufgenommen wie einen Sohn …«
»Das bist du auch, Pierre«, sagte sie schlicht. »Ich habe es ihnen gesagt.«
»Was hast du ihnen gesagt?« Pierre umklammerte ihren Arm. Es tat sogar weh, aber sie verzog keine Miene. »Was?«
»Daß wir heiraten werden …«
»Aber das ist doch nicht wahr!«
»Bist du so sicher?« Sie sah ihn groß an. Zwei Augen wie zwei Stückchen blauer Himmel. »Vielleicht weißt du es noch nicht?«
»Was?«
»Ich liebe dich, Pierre … Und du liebst mich.«
Er lehnte sich zurück und starrte hinaus auf das vorbeifliegende verschneite Land. Man sollte sich aus dem Zug stürzen, dachte er. Man sollte diesen Mut haben. Nicht jeder, der vor der Wahrheit flieht, ist ein Feigling …
*
Der Gare du Nord war im Laufe von 110 Jahren, in denen er als Monumentalbau unter den Pariser Bahnhöfe n ein e Sonderstellung einnahm, schon vieles gewöhnt an Extravaganzen, verrückten Reisenden, herzzerschmetternden Abschiedsszenen, überwältigenden Wiedersehensfreuden, strammen Politikern mit würdevoll-eisernen Mienen und dem Händeschütteln vor den Kameras (obgleich man sich lieber in das Gesäß getreten hätte), und einmal sogar hatte man die gesamte Bahnpolizei aufgeboten, um den entlaufenen Pudel einer Filmdiva zu suchen, der nachher entdeckt wurde, wie er – schon ganz voll Pariser Flair – in einer Ecke sich mit einer Hundedame beschäftigte.
Das alles kam alten Gare-du-Nord-Passanten in Erinnerung, als der TEE von Köln in Paris einlief und auf dem Bahnsteig eine gewaltige dicke rothaarige Frau in einem ungeheuer massigen Pelzmantel eine Art Altar aus Blumen gegen alle Neugierigen verteidigte, und ein langer, dürrer Mensch mit Bibelsprüchen auf den Lippen zu erklären versuchte, daß der berühmte Maler Pierre de Sangries aus Europa zurückkehre, nach einer triumphalen Tournee, mit der er den Namen Paris wiederum im güldenen Licht verklärt hatte.
Das alles spielte sich ohne Schwierigkeiten ab … allein der ›Rote Henry‹ schlug sich mit den maßgeblichen höheren Beamten des Gare du Nord herum, denn er hatte darum gebeten, ein Gedicht zu Ehren de Sangries' über die
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