Liebe kommt auf sanften Pfoten
bleiben.
Juliet keuchte, als der Schmerz wie eine Woge über sie hereinbrach. Das gedämpfte Geschrei und Gelächter von nebenan gingen ihr durch Mark und Bein. Um den Lärm zu übertönen, drehte sie den CD-Spieler lauter und presste die heiße Teetasse an ihre Lippen.
Dann ging plötzlich das Licht aus, und auch die Musik verstummte. Im ganzen Haus war es mit einem Mal totenstill.
Eine Sekunde lang verspürte Juliet eine immense Erleichterung, als hätte sie es endlich geschafft, die ganze Welt auszublenden. Minton rührte sich nicht. Sie schloss die Augen und ließ sich in den samtenen Frieden um sie herum sinken.
Dann ging nebenan wieder das Geschrei los. Zudem ertönten nun dumpfe Schläge. Nervige, rhythmische Schläge.
Ich könnte einfach zu Bett gehen, dachte Juliet mit immer noch geschlossenen Augen. Dafür brauche ich weder Licht noch Strom. Das hat bis morgen Zeit; wenn es ein Stromausfall ist, dann wird es morgen früh bestimmt schon wieder Strom geben.
Aber was, wenn es kein Stromausfall ist?, erklang eine Stimme in ihrem Hinterkopf. Die besorgte Stimme ihres Vaters. Vielleicht war ja im Haus etwas passiert? Wo ist der Sicherungskasten? Vielleicht tritt ja auch Gas aus?
Juliet schob die Stimme einfach beiseite. Ihre Fähigkeit, all das zu ignorieren, was sie nicht wahrnehmen wollte, hatte sie in den vergangenen Monaten erstaunlich perfektioniert.
Ich könnte Müsli essen. Minton frisst nur Trockenfutter. Und zum Baden kann ich zu Mum gehen.
Aber was, wenn das Haus explodiert? Bist du dagegen versichert? Hast du auch den Versicherungsschutz erneuert? Bist du sicher, dass du hier wirklich sitzen bleiben willst?
Ja, dachte sie. Das werde ich. Und zwar, weil ich jetzt allein bin.
Nebenan ertönte wieder ein dumpfer Schlag, dann ein Geschrei des Protests, schließlich laute Rockmusik.
Juliet riss die Augen auf.
Verdammt und zugenäht! Schlimm genug, dass sie in ihrer Trauerstunde durch den Lärm nebenan gestört wurde. Doch spätestens jetzt konnte sie die Tatsache nicht weiter ignorieren, dass es sich keineswegs um einen generellen Stromausfall handelte. Das Problem schien allein ihr Haus zu betreffen. Nur sie. Schon wieder.
Eine vollkommen irrationale Woge der Wut brandete in ihr auf, und sie sprang so schnell aus ihrem Sessel auf, dass Minton Mühe hatte, mit allen vieren auf dem Boden zu landen.
Entschlossen marschierte Juliet durch ihr düsteres Haus, lief den Weg zur Straße hinunter und stieß die Gartenpforte der Kellys auf. Ein paar rosafarbene Kinderräder blockierten den Weg, doch diese konnten sie nicht aufhalten. Juliet stieg die Eingangsstufen hinauf und pochte mit aller Kraft an die Haustür, doch drinnen herrschte ein solches Getöse, dass sie nicht einmal hören konnte, ob die Klingel funktionierte oder nicht. Selbst ihre Faustschläge konnte Juliet kaum hören.
Irgendwo tief im Inneren des Hauses spielte jemand das Bassgitarrenriff von Led Zeppelins Whole Lotta Love . Immer und immer wieder, doch jedes Mal war mindestens ein Ton falsch, während alle Anwesenden den Musiker mit einem »Da-da-da-da-DAH!«-Gegröle anfeuerten.
Juliet schlang die Strickjacke enger um sich, obwohl es eigentlich gar nicht kalt war. Wenn sie vorher über die Aktion nachgedacht hätte, hätte sie sich Schuhe angezogen und wäre nicht in ihren Schaffellpantoffeln hierhergelaufen. Damit konnte man nicht so gut mit dem Fuß aufstampfen – denn genau danach stand ihr gerade der Sinn.
Vor dieser Haustür veränderte sich die Wirkung des Kelly’schen Chaos: Juliet fand es nicht mehr nur nervig – jetzt nahm sie es tatsächlich persönlich. Denn diese Familie war nicht nur laut und lästig, sondern schien ziemlich viel Spaß zu haben. Die ganze Familie war an diesem Tohuwabohu beteiligt, während sie selbst gleich die verbitterte alte Witwe von nebenan sein würde, die ihnen den Spaß verdarb.
Einsamkeit und Wut brandeten in ihr auf. Womit hatte sie es verdient, dass sie nun hier stehen musste? Ben und sie hätten eigentlich jetzt ein Baby erwarten sollen. In ein paar Monaten wären sie vielleicht diejenigen gewesen, die sich bei den Kellys für das Geschrei hätten entschuldigen müssen. Wann hatte das Schicksal eigentlich entschieden, dass sie keine eigene Familie haben würde? Und dass diese blöden, egoistischen Leute gleich vier Kinder bekamen?
Juliet ballte die Fäuste und wollte gerade noch einmal an die Haustür hämmern, als die Tür plötzlich aufgerissen wurde.
Ein Mann, den sie nicht
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