Liebe kommt auf sanften Pfoten
Zimmer betreten. Nicht einmal ihre Mutter. Nach seinem Tod war dies der einzige Raum gewesen, bei dem sie die Tür hinter sich hatte schließen und mit ihm allein sein können, wenn das Haus voller anteilnehmender Leute war.
Lorcan stand in der Tür und kritzelte etwas auf seinen Block. Zum ersten Mal sah Juliet das Zimmer aus der Perspektive einer anderen Person: der Stuhl, auf dem die drei Kleiderkombinationen lagen, die sie abwechselnd anzog, die vom Vorbesitzer lachsrosa gestrichene Wand mit den Testfarbstreifen nahe dem Kamin, wo sie und Ben sich über Graugrün oder Cremefarben gestritten hatten, und schließlich das kurze Mauerstück, an dem gerahmte Bilder von ihnen beiden hingen.
Zumindest befanden sie sich unter dem Betttuch, das sie in einer schlaflosen Nacht über die Bilder gehängt hatte. Juliet brachte es nicht übers Herz, die Fotos abzunehmen und die gespenstische Leere dort zu ertragen, wo die Tapete vergilbt war. Genauso wenig konnte sie es aber ertragen, sich die Bilder anzuschauen, weshalb sie sie mit dem Betttuch abgedeckt hatte. Allerdings sah dieses nun wie ein Leichentuch aus.
»Was befindet sich darunter?«, fragte Lorcan und hob einen Zipfel des Lakens hoch. »So kann man natürlich Risse im Putz auch verdecken … Oh. Entschuldigung.«
»Nimm es ruhig ab«, entgegnete Juliet tapfer. »Irgendwann muss es ohnehin runter.«
»Bist du sicher?« Lorcan musterte sie und prüfte ihre Reaktion. »Ich komme mir ein wenig vor wie der Elefant im Porzellanladen.«
Juliet nickte, woraufhin Lorcan ganz langsam die Reißzwecken entfernte, die sie mit Hilfe eines Buchs in die Wand gehauen hatte. Als das Bettlaken zu Boden fiel, gab es den Blick frei auf eine Vielzahl von Rahmen, die in einem Durcheinander der Erinnerungen dort angebracht worden waren – hier die schnell zusammengesteckten Köpfe, dort eine Selbstaufnahme –, alle durch die vergoldeten Rahmen in Szene gesetzt. Ben lächelte auf allen Bildern lässig, wobei sich seine blonde Wuschelmähne vom strähnigen Surferschnitt über den Ultrakurzhaarschnitt bis hin zu seinem letzten, beinahe erwachsenen Schnitt veränderte. Juliet betrachtete sich selbst eigentlich nie, doch jetzt sah sie sich mit Lorcans Augen: Auf den ältesten Bildern war sie als pausbäckiger Teenager mit selbst gefärbtem, hennafarbenem Haar zu sehen, doch auf den jüngsten Fotos waren ihre Gesichtszüge schärfer und erwachsener geworden, und die mausbraunen Locken waren mehr oder weniger gezähmt.
Was sich aber auf allen Bildern nicht verändert hatte, war die Beziehung zwischen ihr und Ben, selbst wenn sie einander auf den Fotos gar nicht ansahen. Sie berührten sich stets – ihre Hände, ihre Köpfe, ihre Schultern.
»Das ist eine tolle Bilderwand«, stellte Lorcan fest. »Einige Fotos müssen schon ganz schön alt sein. Seid ihr hier in Glastonbury?« Er deutete auf den obersten Rahmen: Auf dem Bild waren sie und Ben mit albernen Narrenhüten und verzücktem Blick zu sehen.
»Das war unser erster gemeinsamer Urlaub nach dem Schulabschluss.« Der erste Urlaub, das erste Mal Zelten, die erste ernsthafte Blasenentzündung. Platt getrampeltes Gras, jede Menge Jack Daniels und Supermarktcola, Sex am frühen Morgen trotz eines Hammerkaters – all das verrieten ihr die schweren Augenlider auf den Bildern.
Juliet fuhr sich hektisch mit der Hand über den Mund. Sie hatte so vielen Menschen schon die gleiche Geschichte erzählt – wie sie sich kennengelernt hatten, wie Ben um ihre Hand angehalten hatte –, sodass diese Geschichte kaum noch eine Bedeutung hatte. Aber sie fühlte sich mit einem Mal ganz schwach bei dem Gedanken daran, jetzt und in diesem Raum die Geschichte einem Fremden zu erzählen, der nur das wissen würde, was sie ihm erzählte. Wie konnte man eine ganze Ehe mit wenigen Worten zusammenfassen?
Es war vollkommen unmöglich, entschied sie.
»Ähm, eigentlich finde ich, dass hier alles in Ordnung ist. Nur ein neuer Farbanstrich wäre nötig, mehr nicht.«
»Na ja …« Lorcan verzog das Gesicht, sah Juliet entschuldigend an und deutete auf die Wand hinter dem offenen Kamin.
»Was denn?« Juliet hatte sich schon umgedreht, um ihm das Gästezimmer zu zeigen.
»Dort befindet sich ein tiefer Riss?«
Juliet ging ins Schlafzimmer zurück, um mit eigenen Augen zu sehen, was er meinte. Als sie hinsah, bemerkte sie es sofort: An der einen Seite des Kamins verlief ein Riss seitlich am Kaminschacht hinauf und quer über die Decke. Warum war ihr der Riss
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