Liebe läßt alle Blumen blühen
Dann klopfte er an den Laden des hinteren Fensters, das zur Küche gehörte.
Nichts rührte sich.
Sie ist eingeschlafen, dachte Raoul de Formentiére. Immer das alte Lied: Auf Weiber ist kein Verlaß! Das heißt – bei Lulu hatte er so etwas noch nie erlebt, sie bildete darin eine Ausnahme. Sie war, so hatte er gefunden, eines jener modernen jungen Mädchen, die jeden alltäglichen Mann an Geistesgegenwart, Intelligenz und Willensstärke übertreffen. Schönheit und Unerschrockenheit – das ist eine seltene Mischung. Lulu, fand der Marquis, war darin eine ideale Kombination.
Ein wenig unruhig ging er zur Mühlentür und wollte dagegen klopfen, als er den Zettel sah. Er war mit einem Klebefilm an das Holz geheftet und flatterte im Nachtwind.
Raoul riß den Zettel ab, trat zurück und knipste sein Feuerzeug an. Im Schein der zuckenden Flamme las er die wenigen Zeilen und wußte sofort, daß er durch einen satanischen Zufall in einen Zweifrontenkrieg geraten war. Er konnte für ihn zur totalen Vernichtung führen …
Langsam faltete er den Zettel zusammen, stieß die Tür auf und betrat die Mühle. Hier zündete er eine der Petroleumlampen an, ging nach hinten in eine Art Lagerraum, wo früher Mehlsäcke gestapelt worden waren, räumte allerlei Gerümpel zur Seite und legte eine Falltür frei. Sie war schwer zu entdecken, so vollkommen war sie in den Boden eingelassen.
Mit einem Stahlhaken, den er aus der Tasche zog, hob er die Tür an, klappte sie hoch und stieg dann auf einer schmalen Leiter nach unten. Hier weitete sich ein gut isolierter Raum, mit dicken Steinen ausgemauert, muffigkühl, aber trotz des nahen Grundwassers trocken, aus.
Der Marquis de Formentiére hob die blakende Lampe.
Aufeinandergestapelte Kisten und Kartons, Reihe hinter Reihe, standen da. Auf einer hölzernen Palette, gegen die Bodenfeuchtigkeit abgeschirmt, hatte man kleine weiße Leinensäcke geschichtet. Raoul überblickte versonnen seinen Schatz und überlegte. Die Sachen zu verlagern war unmöglich, auch wenn Lulu oder Alain ihm dabei helfen würden. Es gab nur eines: Zeit zu gewinnen, bis man die Lieferung abholte. Alle Probleme müßten gelöst werden, ehe die neue Lieferung eintreffen würde. 100.000 Francs durften da keine Rolle spielen.
Eine halbe Stunde später verließ der Marquis die Moulin St. Jacques, aber er ritt nicht zurück zu seinem Gut … Er ritt in Richtung Dom de Méjeanne am Ufer des Etang entlang und hielt vor einer der verstreut und in völliger Einsamkeit liegenden Fischerhütten an. Hingeduckt lag das Haus am See, weiß getüncht, von Tamarisken und Weidenbüschen umgeben, mit verwittertem Zaun und einem hochrädrigen Karren in einer offenen Remise. Marquis de Formentiére stieg vom Pferd, band das Tier an dem Zaun fest, trat an das Haus heran und klopfte an eines der verriegelten Fenster. Von innen klang es hohl zurück, als schlüge er auf eine große Pauke.
Nun glaube man nicht, diese Gegend sei so etwas wie ein verwunschenes Märchenland, wo es noch ein Dornröschen geben könne, ein Gebiet dieser Erde, umsponnen von unzerstörten Jahrhunderten, ein Paradies voller Wohlklang und Seligkeit … Man soll sich nicht täuschen lassen durch die zauberhaften Flamingoherden, die Reiherschwärme, die Rudel der weißen Pferde und schwarzen Stiere der Camargue, durch die in der Sonne schimmernden, silbern glänzenden Wasserflächen der Etangs mit ihren Schilfinseln und Tamariskenhainen … Überall wohnen auch Menschen in ihren kubischen, flachen, geputzten und bemalten Steinhäusern: Fischer, Bauern, Hirten und Handwerker. Und wenn sie auch friedlich, freundlich, manchmal auch verschlossen sind, weil die Natur ihnen mehr zu sagen hat als die Mitmenschen, so bewahrheitet sich doch im Grunde die alte Regel: Wo drei Menschen zusammenstehen, da hört der Frieden auf.
Gewiß, die Bewohner dieser Camargue, dieses riesigen Naturschutzparks an der Mündung der Rhone, sind Menschen besonderen Schlages. Das Wetter hat sie gegerbt – nicht nur ihre Haut, auch die Seele. So leicht sind sie nicht zu erschüttern, weder durch Unwetter oder Trockenheit, noch durch Mückenplage, Rinderpest, Pferderotz oder Bremsenbefall. Auch menschliche Schwächen werden im allgemeinen von der allgegenwärtigen Ruhe und unermeßlichen Weite aufgesaugt, aber wenn so ein Mann wie Marcel Bondeau in der Gemeinde wohnt, dann kann man schon einmal die Geduld verlieren. Da kann man die Mütze in den Nacken schieben, die Ärmel hochrollen und nach
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