Liebe, lebenslänglich
wie ihre langen, lockigen, kastanienbraunen Haare über diesen winzigen Körper fielen. »Doch dem Kind war es unbehaglich, es drehte sich irgendwie aus meinen Haaren raus«, erinnert sie sich, und sie gab ihrer eben erst zur Welt gekommenen Tochter dieses Versprechen: »Ich will versuchen, immer auf dich zu hören. Und immer versuchen zu verstehen, was du möchtest. Du bist ein eigenständiges Wesen.« Und nochmals, mit so viel Elan wie Zärtlichkeit in der Stimme: »Du bist ein eigenes Wesen.«
Keine Frage, als Liebende kennt Ingeborg Lüscher nichts Fahriges. »Ich liebe absolut und unteilbar«, sagt sie. So entspricht es ihrem Temperament. Einen Mann zu einer Zeit. Ein Kind. Diese fraglose Liebe hat die Tochter bestimmt gestärkt während der harten Tessiner Jahre, auch wenn sie die Mutter vielleicht blind dafür gemacht hat, wie sehr Una damals kämpfte.
Zwar erinnert Ingeborg Lüscher sich daran, dass Una mit drei Jahren eine sehr ruppige Phase durchmachte, »als etwa ihr Patenonkel ihr über das blonde Köpfchen streicheln wollte, fuhr sie ihn an: ›Nimm deine dreckigen Hände weg. Meine Haare sind frisch gewaschen!‹«. Doch das sei wohl eine Reaktion der Tochter auf die Anspannung der Eltern gewesen, denn sie und Harald hätten damals, vor einer Ausstellung auf dem Monte Verità, während Monaten fast ununterbrochen und manchmal bis tief in die Nacht gearbeitet. »Una war zu jener Zeit oft auf sich gestellt.«
Aber sonst? Meiner Tochter geht es gut, dachte sie. Wie unglücklich sie bei den Nonnen war, begriff Ingeborg Lüscher erst, nachdem sie diese Schule verlassen hatte. Una litt als Kind häufig unter Bauchschmerzen. Hätte sie darin ein Symptom für seelischen Schmerz sehen müssen? Hätte sie auf die brutale Reaktion von Unas Lehrerin reagieren müssen? »Ihre Tochter hat Bauchschmerzen?«, so die Nonne. »Ach ja, ich hatte dieses Diplomatenkind, aus Basel. Das klagte auch immer über Bauchschmerzen. Das Kind ist inzwischen tot. Die Autopsie hat nichts ergeben.«
Doch Ingeborg Lüscher reagierte nicht. Denn sich bei der Oberin zu beklagen, das lag ihr nicht. Sie hoffte auf Einsicht nach dem Gespräch. Und zu Hause zeigte Una keine Blessuren. Da war kein Bruch festzustellen zwischen dem Kleinkind Una und Una, dem Schulkind. Im Gegenteil. Im Gelben Buch findet Ingeborg Lüscher viele Beispiele für ein waches, lustiges, erfindungsreiches, poetisches, liebevolles Mädchen. Sei es, dass Una ihr Kinderzimmer mit Toilettenpapier eingesponnen hat oder dass sie sich sichtbar freute, wenn sie andere zum Lachen bringen konnte. Oder weinend unter den Tisch kroch, wenn ihre Mutter über Harrys Scherze mehr lachte als über die ihren.
Jetzt drängen die Geschichten mit Macht aus Ingeborg Lüschers Erinnerung ins Hier und Jetzt unseres Gesprächs. Wie Una, »sonst eine hinreißende Tänzerin«, ein Theaterstück mit ihrem Cousin aufführte und dabei schlecht tanzte – absichtlich, wie sie hinterher erklärte, weil ihr Cousin so selten gelobt werde. Oder wie die Sechsjährige sie einmal um Hilfe bat, sie wolle ihr Bett verschieben, eine schwere Spanplatte auf Ziegelsteinen. Ingeborg Lüscher vertröstete ihre Tochter auf später. Als sie zurückkam, stand das Bett exakt an der Stelle, an der Una es haben wollte. Die Mutter konnte es kaum fassen. »Una«, sagte sie, »da hast du etwas ganz Schwieriges geschafft. Weißt du, warum? Weil dein Wunsch so stark war. Denk immer daran, dass du das geschafft hast, denk immer daran.«
Oder diese sehr vornehme Einladung, bei der am anderen Ende des Tisches ein alter Mann saß, der unheimlich röchelnde und pfeifende Geräusche von sich gab. Der Mann sei krank, sagte Ingeborg Lüscher leise zur damals zweijährigen Una. Da stand ihr Mädchen auf, ging auf den Mann zu, streckte ihm seine kleine Hand entgegen und sagte: »Ich heiße Una.« Die Geste gab Ingeborg Lüscher Vertrauen in ihre Tochter: »Ihr Mitgefühl war so groß, dass sie ihre Furcht überwinden konnte.« Und sie dachte bei sich: »Dieses Kind wird es richtig machen im Leben.« Warum hätte sie ahnen sollen, dass ihre wunderbare Tochter in der Schule unter täglichen Sticheleien leiden würde?
Una hatte nur einen Zug, den ihre Mutter bewusst ändern wollte: den Jähzorn. Una konnte sie mit Worten attackieren: »Du bist ja so verblödet«, »Du verstehst überhaupt nichts«, »Blöde Kuh, du«. Zwei Minuten später hörte sie sie in ihrem Zimmer fröhlich singen. Ihr aber gingen Unas in der Wut geäußerte
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