Liebe, lebenslänglich
die Kinder auch fürs Mittagessen bleiben konnten. Diese Nonnen bestätigten Unas Gefühl, außerhalb der Norm zu liegen. Sie war dort »das Mädchen ohne Eltern«. Denn wer unverheiratete Eltern hatte, hatte keine Eltern, so die klösterliche Logik. Als Tochter einer Krauti, also einer Deutschen, und eines Zucchini, also eines Deutschschweizers, galt sie in den Mauern dieser Schule als Ausländerin, ihr deutscher Akzent wurde gerügt, obwohl sie die italienische Sprache ab dem Alter von zwei Jahren von ihrer Kinderfrau Dady gelernt hatte, und Dady kam aus der Umgebung. »Mein Italienisch sei das schlechteste, hieß es, noch schlechter als das der Türken.« Und weil Una wegen einer Entzündung ihre Kopfhaut mit einer Creme behandeln musste, war sie das Mädchen, das man nicht berühren durfte: »Fasst sie nicht an!«, rief die Nonne, die ihre Lehrerin war. »Fasst sie nicht an!«
Una Szeemann reagierte mit Härte, gegen sich selbst: »Ich zwang mich schon als Kind, mich zusammenzureißen. Ich ließ mir die Verletzungen nicht anmerken. Ein Feigling war ich nie.« Und sie versuchte, der Vereinzelung mit Anpassung zu begegnen, »und sei es nur, dass ich angefangen habe, so vulgär wie die anderen Kinder zu reden«. Es kostete sie Überwindung, das Wort »cazzo«, Schwanz, in den Mund zu nehmen, doch sie tat es.
Sie habe ihre Tessiner Schulzeit im Wesentlichen wohl einfach durchlitten, sagt Una Szeemann im Rückblick. Und dass es ein Glück sei, »dass man die Grausamkeiten, während sie einem zugefügt werden, nicht in ihrer ganzen Schärfe erkennt«.
Tegna war für die Tochter ein Ort des unfreiwilligen Ausscherens. Für die Mutter war es ein beinahe magischer Ort der Selbstentfaltung.
Ingeborg Lüscher erzählt, wie sie 1967 hierherkam, um Abstand zu gewinnen von ihrer Vergangenheit als Schauspielerin und von ihrer Ehe mit dem Schweizer Farbpsychologen Max Lüscher. Sie habe bis dahin das von ihr erwartbare Wohlverhalten mehr als erfüllt. Sie war erfolgreich als Schauspielerin, weil sie sich an die Vorgaben der Regisseure hielt. »Wo aber, fragte ich mich, ist das Eigene? Wo bin ich?« Tegna im Centovalli schien ihr ein guter Ort, um ihre Zukunft in die Hand zu nehmen. Hier stieß sie auf Armand Schulthess, der alleine im Wald lebte und alles ihm verfügbare Wissen auf Tausende kleiner Tafeln schrieb, die er an die Bäume hängte. Sie dokumentierte dieses Werk der Weltbemächtigung in A.S. – Der größte Vogel kann nicht fliegen . Das Buch passte in die damalige Zeit, die den Aussteiger mit Glamour versah. Sie wurde damit schlagartig bekannt und zur Documenta in Kassel eingeladen. »Und dann kam Harald Szeemann, und mit ihm dieses alles erschütternde Erlebnis des Liebens«, sagt sie, »und die Frucht dieser Liebe war eben Una.«
Sie war 39 Jahre alt, und in ihr war alles bereit, dieses Kind zu empfangen. Sie würde ein wunderbares Kind zur Welt bringen, da gab es für sie keine Zweifel. »Dieses Kind musste es sein, kein anderes.« Sie wollte kein Risiko eingehen und schlug alle Vorsorgeuntersuchungen aus. »Aus heutiger Sicht wäre das natürlich unverantwortlich.« Aber warum hätte sie all ihre Hoffnungen der Schulmedizin anvertrauen sollen? Sie überließ sich ebenso gern der Poesie, Magie, Spekulation, um sich und ihre Fantasie in Schwung zu halten.
Und weil das Leben und die Arbeit für sie untrennbar sind, diente ihr auch die Kunst, ihre mütterlichen Entdeckungen zu erfassen. Sie zitiert Loriot: »Heiterkeit ist ohne Ernst nicht zu begreifen.« Den Ernst lebe sie auf ihre Weise, wer ihre Werke kenne, könne viel darüber erfahren. Sie blättert in dem Ausstellungskatalog Avant-Après. Sheer Prophecy – True Dreams , eine Arbeit aus den Jahren 1973 und 1974, in der sie die Weissagungen einer Kartenlegerin ihren eigenen Träumen gegenüberstellt. »Da, schauen Sie!« Die Wahrsagerin prophezeit ihr ein Kind. Und da einer ihrer Träume: »Ich sitze in einer großen blauen Blase mit einem blauen Kind auf dem Schoß und bin unglaublich glücklich.« Ingeborg Lüscher ist offen für den Stoff, aus dem die guten Träume sind.
Und so kam Una im April 1975 tatsächlich zur Welt, mit Kaiserschnitt: »Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder und in meinen Armen lag ein wunderschönes Kind.« Ingeborg Lüscher sah ein Gesichtchen »wie mit dem Zirkel geschaffen, so harmonisch«. Und sie erzählt mit Hingabe, wie sie »dieses Wunder« betrachtete und ihr »das Herz ganz weit offen war vor Liebe« und
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