Liebe, lebenslänglich
viel näher gekommen ist, bewegt sie sich in einer weiten Landschaft, sie atmet frei.
Sie bauten ein Haus, und ihr kam die Zukunft abhanden. Sie richteten sich neu ein, doch für sie war das Haus leer. Der ältere Sohn war ausgezogen, Rainer verschwand zu seinen Geschäftsterminen und Arne in seinem Zimmer. Er entzog sich ihr, wann immer er konnte. Das Gefühl, abgelehnt zu werden, führte zu unseligen Vergleichen: »Arne ist wie Rainer!« Die Nähe von Vater und Sohn, die sie früher mit Freude beobachtete, machte sie jetzt reizbar, denn sie wandte sich gegen sie. Alles, was ihr wichtig war, zerrann: »Ich hatte gesät, die Saat war aufgegangen, nun fühlte ich mich um die Ernte betrogen.«
Heute fragt sie sich, warum sie nicht früher erkannt hatte, dass sie sich auf einen Nullpunkt zubewegte. Ihr Mann sei für seine Söhne immer schon mehr ein Versprechen gewesen als ein Vater. Und sie habe sich nicht daran gestört, es sogar gefördert. Im Grunde lebte sie den Alltag einer Alleinerziehenden, mit dem Unterschied, dass sie sich um das Geld nicht zu kümmern brauchte. Das, sagt sie, habe ihr Mann »mit Bravour erledigt«.
In ihrer Rolle fühlte sie sich wie »der letzte freie Mensch«. Sie konnte ihre Tage gestalten, wie sie wollte, und ihre Tage waren reich und erfüllt. Sie hatte genug Zeit, die frei war, wenn auch nicht im Übermaß. Sie organisierte den Haushalt, spielte Tennis, las Bücher, ging mit den Kindern auf den Sportplatz oder zum Schwimmen, manchmal rief ihr Mann sie abends um sechs an, Geschäftsfreunde kämen zum Essen, dann zauberte sie was auf den Tisch. Und sie sah das nicht als Beweis einer ängstlichen Ergebenheit gegenüber ehelich auferlegten Pflichten, sondern als Privileg. Sie hätte mit niemandem tauschen mögen.
Nach der Hochzeit hatte sie ihre Stelle als Lehrerin sofort gekündigt. Von ihren Schülern verabschiedete sie sich mit den Worten: »So, jetzt mache ich eine eigene Schulklasse auf.« Sie gebar ihren ersten Sohn, ein Jahr später Arne. Da merkte sie, dass sie nur zwei Hände hatte. Zwei Söhne, für jede Hand einen, das erschien ihr fürs Erste perfekt, denn sie würde wenig Hilfe haben. Sie wollte immer Söhne. Das hatte sie von ihrer Mutter, die in Frauen eher Schlangen sah. Heute hätte sie gern auch eine Tochter gehabt.
Goldblonde Ringellöckchen rahmten Arnes Gesicht, so viele, dass die Leute auf der Straße stehen blieben. Sie trug ihm Gedichte vor: »Es kommt ein goldner Wagen, drin sitzt ein Mann mit goldnen Haaren. Was will er denn? Was will er denn? Er will die Liebste haben.« Beim »goldnen Wagen« und bei den »goldnen Haaren« lachte Arne laut auf. Er konnte sich ausschütten vor Lachen. Etwa, wenn sie Äpfel schälte und die Haut sich als Spirale löste. Also gab es in dieser Zeit oft etwas mit Äpfeln. Sie las ihren Söhnen oft vor, Arne malte dazu, »sehr expressiv, farbenfreudig, eigenwillig«. Er sei gewesen wie seine Bilder, dazu »ein süßes und fröhliches Kind, ein Seehund, ein Wonneproppen«.
Als er in die Schule kam, wurde er auf dem Pausenplatz verhauen. »Das war mir neu. Das kam völlig unerwartet«, sagt Heike Schmidt. Dass ihr Kind sich nicht durchsetzen konnte und weder als Anführer noch Mitläufer einer Gruppe taugte, sondern im Abseits stand, erwischte sie kalt: »Das wäre mir nun überhaupt gar nie in den Sinn gekommen, dass man Arne nicht mögen könnte. Ich war schockiert.« Sie hatte immer darauf geachtet, dass er auf Spielplätzen mit anderen Kindern in Kontakt kam. Sie dachte, sie hätte ein gutes Fundament gelegt. Sie dachte, dass sie nichts falsch machen könne und nichts schiefgehen werde, wenn sie ihr Kind nur liebe. »Und ich habe meine Kinder geliebt«, sagt sie, »sie waren mir immer das Wichtigste auf der Welt, das Allerwichtigste.«
Arne Schmidt weist die Liebe seiner Mutter nicht zurück. Damit er sie aber aushalten kann, knüpft er sie an Bedingungen: Heike darf weder seinen Dank erwarten noch ihn mit Wünschen bezüglich seiner Zukunft beladen. Hält sie sich daran, will er ihr auch nicht die große Bedeutung vorwerfen, die sie ihm in ihrer Biografie zuschiebt. Denn eine Mutter könne nur dann eine gute Mutter sein, sagt er, wenn sie sich als Regisseurin ihres Lebens begreife, und Heike habe genau das geschafft. Ihre Kinder hätten für sie nicht das Ende der eigenen Freiheit bedeutet, sondern deren Beginn. Nie habe sie die geschrubbten Pfannen gezählt, nie die gebügelten Hemden. Sie habe exakt das getan, was sie für
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