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Liebe, lebenslänglich

Liebe, lebenslänglich

Titel: Liebe, lebenslänglich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula von Arx
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richtig befunden habe, sie sei eine glückliche Hausfrau und Mutter gewesen.
    Und dennoch würde Arne seinem Kind, wenn er mal eines haben sollte, eine andere Kindheit wünschen: Er würde es in eine Kita schicken. Er ist aufgewachsen in der Familie als einem Ort der konkurrenzlosen Sicherheit. Viele halten das für einen Code für Glück. Er sieht darin im Rückblick einen Mangel. Er musste sich nie beweisen, nie um seinen Platz kämpfen, sagt er. Darum habe es ihm in der Schule an sozialer Cleverness gefehlt. Und was zu Hause als Stärke galt, Originalität, war für die Lehrer Störung und die anderen Jungs ein Grund, zuzuschlagen. Sodass er sich verstellen musste, um in der Schule einen Platz zu finden. Die maximale Anpassung, die er erbringen konnte, reichte zum »Klassenclown mit guten Noten«.
    Kam hinzu, dass die Welt zu Hause geschlossen genug war, um sie als ganze zu nehmen. Arne war überrascht, als einmal alle Kinder ihre Lieblingsmusik vorstellten. Rivers of Babylon von Boney M. zum Beispiel, davon hatte er noch nie gehört. Er kam mit Tauben vergiften , einem Lied von Georg Kreisler, und mit einem Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier von Johann Sebastian Bach. Und er war fassungslos, dass er damit nicht den allgemeinen Geschmack traf. Er versuchte die anderen zu verstehen. »Aber die Leitungen waren blockiert«, sagt er, und das sei »eine Formel für Unglück«.
    Einen Ausgleich erfuhr dieses Unglück in der Grundschule durch gute Noten, Lob für seine Zeichnungen, eine besänftigende Mutter, den bewunderten Vater, einen Bruder, der ihm und dem er sehr zugetan war, überhaupt eine fröhliche Eitelkeit bezüglich seiner Familie. Ihn persönlich ließen Autos zwar kalt, doch die Strahlkraft, die der Range Rover seiner Eltern in den Augen der anderen Jungs hatte, färbte immerhin ein wenig auf ihn ab. Die Mädchen hingegen schwärmten weiterhin für die guten Fußballspieler, Pech für Arne. Er war zum perfekten Sonderling geformt worden.
    Seine Mutter nahm wahr, dass ihr Sohn unter seinen Klassenkameraden litt, und wollte helfen. Sie versuchte ihn von der Renommee-steigernden Wirkung des Sports zu überzeugen, sie war selbst sportlich und hoffte, auch der Sohn würde diesbezüglich Ehrgeiz entwickeln. Skifahren im Winter, Tennis im Sommer, Schwimmen, Fußball, was immer er wollte. »Aber da«, sagt sie, »kam er mir nicht entgegen.« Sie lud andere Jungs zu sich nach Hause ein, damit sie sich fernab von Pausenplatz und Schule begegnen konnten. Sie suchte den Lehrer auf, der stolz von sich behauptete, alle Kinder mit gleicher Strenge zu behandeln und sehr gerecht zu sein. Sie erwiderte, genau das sei sehr ungerecht, wo doch kein Kind sei wie das andere, und traf mit dieser Logik auf eisiges Schweigen.
    Dieser Lehrer verlangte militärischen Gehorsam, und Arne hatte dafür keine Nerven. Seine schulischen Leistungen waren konstant gut, doch wirkte er öfter bedrückt, vergaß Dinge, träumte vor sich hin. Manchmal schaute er lange ins Leere und war wie taub. Der Arzt stellte eine Absence-Epilepsie fest.
    Nie wird sie diesen Moment vergessen: sie und ihr Mann im Sprechzimmer, Arne draußen vor der Tür. Es klopft. Es ist Arne, der verlangt, bei der Besprechung dabei zu sein. Denn sie betreffe ihn ja am meisten. Heike Schmidt ist bis heute davon beeindruckt, dass ihr damals zehnjähriger Sohn seine Anwesenheit einforderte. Diese Episode zerriss ihre Bedenken, dass Arne zu weich sein könnte für diese Welt. Sie sah darin den Beweis, dass sein Selbstvertrauen trotz aller Demütigungen in der Schule intakt geblieben war. Auch dass er ein Jahr später die Prüfung fürs Gymnasium schaffte, obwohl sein Lehrer ihn nicht dazu vorgeschlagen hatte, stärkte ihren Mut.
    Die Diagnose erlebte sie als Wendepunkt: »Sie veränderte alles.« Arne bekam Medikamente, wurde auf einen regelmäßigen, streng strukturierten Tagesablauf verpflichtet, kein Stress, viel Schlaf. Ihr Mann träumte sorgenvolle Träume. Sie drückte den Kummer weg mit einer Zuversicht, die auf Arnes stabiler Grundverfassung gründete. Und mit dem Vorsatz, sich noch eingehender um ihn zu kümmern.
    Ihre Unterstützungsfreude wurde allerdings sehr bald ausgebremst, und zwar von ihrem Sohn selbst. Ab der Pubertät empfand er ihre Hilfe nur noch als Einmischung, obwohl er jetzt erstmals in der Schule ins Schlingern geriet. Als er Gefahr lief, ein Jahr wiederholen zu müssen, bestand sie darauf, ihm bei den Hausaufgaben zu helfen. Doch das schätzte

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