Liebe, lebenslänglich
schätzen.
Doch hat ihr Sohn nicht oft und oft nicht lange Zeit. Sie würde sich dem Augenblick gern hingeben, gespannt, was er ihr bringt, sie hätte Zeit. Er hingegen bricht so charmant wie schnell ab, wenn ihn Langeweile oder Rastlosigkeit befallen. Da zeige er ein ihr fremdes Wesen, sagt sie.
Arne Schmidt kann die Wahrnehmung seiner Mutter insofern nachvollziehen, als er sie in die Nähe von »Erde« bringt, er selbst hingegen sei »Luft«.
Die Wohnung seiner Kindheit war ein Schiff, sagt er, »und rundherum wogende, überwältigende Wellen.« Heike sah er vor allem als Beschützerin. Sie rannte herbei, um zu verhindern, dass der um ein Jahr ältere Bruder ihm ins Auge fasste. Nein, Clemens, das sind keine Murmeln, das sind Arnes Augen. Arne Schmidt erinnert sich, wie sie sich beim Lehrer seiner vierten Grundschulklasse für ihn ins Zeug legte: Aber ich bitte Sie, natürlich versteht Arne nicht, warum er sein Weiher-mit-Steintreppe-Bild nicht mit nach Hause nehmen darf, bei den Gründen, die Sie nennen, versteht das kein Mensch. Seine Mutter lotste ihn erfolgreich durch seine Schulmattigkeit im Gymnasium, und später streckte sie ihm Geld vor, wenn die Steuerrechnung zu hoch war, und kein Zwischenton begleitete ihre Hilfe.
Sie war immer für ihn da und um ihn herum, wie dieser Holztisch, an dem er jetzt sitzt und isst und manchmal arbeitet und den er sich von ihr zu Weihnachten gewünscht hat. »Eine Zeit lang hat sie ihre Liebe mit Teetassen ausgedrückt«, bei jedem Besuch habe sie eine Teetasse mitgebracht, »die trug ich dann alle mal auf den Flohmarkt.«
Arne Schmidt erkennt an, wie sehr ihn seine Mutter förderte, bestätigte, liebte und wie sie um und für ihn kämpfte, und das bis heute. Sie sei »hoffnungslos loyal«, es mache ihn irgendwie traurig, dass er ihre mütterliche Fürsorge »nicht mit einem Schwall von Euphorie« beantworten könne. Dass er das, wofür sie in seinem Erleben stehe, »das Lokale«, »Wärme«, »das Nest«, zerpflücken müsse. Die Mutter sei der Ausgangspunkt, sagt er, nicht das Ziel.
Arne sagt es auch härter: »Ich will nicht in der Stimmung leben, in der meine Mutter lebt. Sie schafft eine Atmosphäre um sich, die nicht die meine ist. Zu schwer.« Und konkreter: »Wenn ich mal freie Zeit habe, rufe ich lieber meinen Vater an.«
Natürlich ist er sich bewusst, dass sie den schweren Job gehabt hat, den Alltag, die Erziehung; mit ihr machte man Hausaufgaben und Spaziergänge im Wald, während der Vater Rainer elegant aus dem Flugzeug stieg. Immerzu stieg Rainer aus irgendeinem Flugzeug, brachte Geschenke mit und roch gut. Er verkörperte für den kleinen Arne das Fremde, das Geheimnis, die Welt. Sein Vater war smart, clever, höchst erfolgreich, heute würde er sagen: das Ebenbild des Werbers Don Draper aus der amerikanischen TV -Serie Mad Men . Rainer spielte mit seinen beiden Söhnen vielleicht eine halbe Stunde vor dem Zubettgehen, danach verschwand er wieder hinter der Zeitung oder im Büro. In seiner Kindheit sei sein Vater etwa so präsent gewesen wie er jetzt für seine Nichte, sagt Arne. Doch milderte die knappe Zeit, die der Vater ihm zu geben bereit war, nicht seine verzückte Anhänglichkeit, im Gegenteil: »Rainer ist die erste große Liebe meines Lebens«, er verstehe den Typen einfach und fühle sich ihm »sehr verwandt, vom Wesen her«.
»Das war so und das blieb so«, sagt Heike Schmidt in sachlichem Tonfall. Das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen ihr und Arne sei erkämpft, während das Einvernehmen zwischen Arne und seinem Vater umfassend da war, von Anfang an. Heike Schmidt erinnert sich, wie die Wiege wogte, wenn Arne, kaum geboren, die Schritte seines Vaters hörte; wie er ihm die kurzen Ärmchen entgegenstreckte, zitternd vor Freude. Später, wenn sie während der Sommerferien durch Tessiner Flusstäler wanderten, rannte Arne mit seinem Vater voraus, sie mit seinem Bruder hinterher, »einmal verloren wir sie, weil es ihnen nicht einfiel zu warten«. Und als Arne in der Pubertät seinen Vater verehrte und von jedem Fehler freisprach, erfuhr sie von ihm radikale Missachtung, als Mutter und als Mensch.
Sie beschreibt diese Zeit heute als eine Art persönlichen Weltuntergang. »Ich befand mich in einem langen, von hohen Wänden umstellten Tal, oben der offene Himmel, vorne, weit entfernt, das Meer, aber eigentlich war es der Tod, in diesem Tal passiert nichts mehr, du wanderst nur noch dem Tod entgegen.« Heute, wo sie 73 und dem Ende des Lebens
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