Liebe, lebenslänglich
passieren könnte, sagten sie ihm wohl aus einer Vorahnung heraus, das Schlimmste wäre, wenn sich herausstellen würde, dass ihr Sohn schwul sei. Und als Frédéric Carrière eines Tages all seinen Mut zusammennahm und seiner Mutter die Wahrheit sagte, erwiderte sie trocken: »Ich habe nur Behinderte zur Welt gebracht.« Sein inzwischen verstorbener Vater brach den Kontakt für sechs Monate ab.
Inzwischen sei seine Mutter eine stolze Großmutter, obwohl sie immer noch hadere mit der Veranlagung ihres Sohnes. »Meinen Eltern ist es enorm schwergefallen, mich so zu akzeptieren, wie ich bin«, sagt Frédéric Carrière. Er habe sich zu lange verpflichtet gefühlt, ihnen und der Welt gegenüber eine Rolle zu spielen und im Falschen zu leben. Eine ohnehin schwierige Zeit sei so zu einer schlimmen Zeit geworden. Homosexualität war immer noch ein großes Tabu in seiner Jugend, er hatte keine Möglichkeiten, sich zu informieren oder gar auszutauschen. Er wünsche es wirklich niemandem, diese Einsamkeit erleben zu müssen, und trotzdem: »Ich bin, der ich bin, nicht zuletzt, weil ich das alles erfahren musste. So absurd es klingt: Ich möchte es nicht missen.«
Was jedoch Paula betrifft, da will er ohne Frage alles unternehmen, um sie glücklich zu machen und alles in seiner Macht Stehende, um zu vermeiden, dass sie unglücklich wird. Ich frage ihn, wie er reagieren würde, wenn er erführe, dass seine Tochter lesbisch sei. Frédéric Carrière überlegt. Er sagt, er würde es ihr nicht ausdrücklich wünschen, auch Félix würde er es nicht wünschen, homosexuell zu sein, denn selbst in einer relativ offenen Gesellschaft sei es das schwierigere Leben. »Aber es gibt wohl schon einen Unterschied«, sagt er zögernd. Er habe den Verdacht, dass ihm die Homosexualität seiner Tochter eher zusetzen würde als die Homosexualität seines Sohnes. »Weniger wegen ihr als wegen mir. Weil ich Angst hätte, sie dadurch zu verlieren, an die Mütter. Oder überhaupt.«
Paula sagt mir noch, dass ich schreiben solle, sie sei glücklich, und dass sie alle liebe, Pepe, Mami, Mama und Papa. Und dass sie, wenn sie zaubern könnte, zaubern würde, dass in der Schule alle lieb zu ihr seien, und sie würde auch zaubern, dass sie in zwei Schulen gehen könnte, immer einen Tag in die Schule in Offenburg bei Mama und Mami, und einen Tag in die Schule in Lahr, bei Papa und Pepe, abwechselnd.
DIE MUTTER IST ERDE,
DER SOHN IST LUFT
Die Kinder waren Heike Schmidt (73) das Wichtigste, sie tat alles für sie. Arne Schmidt (46) aber empfand die Hingabe seiner Mutter als Übergriff. Nach jahrelangem Schweigen kam es zur Annäherung zwischen der Mutter und ihrem wesensverschiedenen Sohn.
Heike Schmidt war überzeugt, frei zu sein von unterschwelligen Erwartungen, die ihren Sohn hätten lähmen können. Dass sie sich da getäuscht hatte, bemerkte sie erst, als die Enttäuschungen einsetzten.
Sie sitzt in ihrer hübschen, freundlichen Wohnung, von der aus sie ein hübsches, freundliches Viertel überblickt. Ihre Stimme klingt hell, wenn sie erzählt, dass sie Arne inzwischen wieder regelmäßig trifft. Es sind für sie gute Begegnungen, auch wenn sie sich oft auf die Zunge beißen muss. Sie versucht heute, Unabänderliches nicht aufzurühren, sondern zu bejahen. Arne ist 46 Jahre alt und Schauspieler, die Sorgen wegen seiner finanziellen Zukunft behält sie für sich. Von Zeit zu Zeit stellt sie ihm die Frage, ob er sich glücklich fühle, und solange er dies bejaht, will sie zufrieden sein. Und sich freuen, wenn sie ihn auf der Bühne sieht. Sie freut sich immer, wenn sie ihn auf der Bühne sieht. Wie er Anbetung in sein Gesicht legt und in der nächsten Sekunde Herablassung. Wie er mit einem schmalen Lächeln um Hilfe bitten kann. Er vermag mit seinem Körper zu drohen wie mit einem Gewehr. Das alles erstaunt sie. Wo hat er das her?
Sie mag seinen Humor. Sie mag seine Nachdenklichkeit, seine Fröhlichkeit, sogar seine Ruppigkeit. Er kann sehr direkt sein. Sie mag, wie er seinen Freunden die Treue hält. Sie freut sich über seine Widmungen in den Büchern, die er ihr schenkt. Sie freut sich über jedes Wiedersehen – im Sommer vielleicht in einem der Cafés am See –, wenn er Zeit hat und ein bisschen von sich erzählt. Manchmal erzählt er ihr Dinge, die hätte sie ihrer Mutter nie erzählt. Sie begreift das als ein Zeichen des Vertrauens. Das war mal weg und ist jetzt wieder da, sagt sie, und dass sie gelernt habe, auch kleine Gesten zu
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