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Liebe, lebenslänglich

Liebe, lebenslänglich

Titel: Liebe, lebenslänglich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula von Arx
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der Mutter Schutz suchte vor einem Vergewaltiger und wie dieser die Waffe zückte und seine Schwester in den Armen seiner Mutter erschoss. Eine andere Schwester starb in einem russischen Arbeitslager. Ein Bruder wurde als Soldat eingezogen und kehrte nicht zurück. Ein anderer Bruder wurde von den Russen verschleppt und blieb verschollen. Willi Orzessek erinnert sich, dass er sich beim Anblick der von Leichen übersäten Felder vorstellte, wie später die Bauern bei der Ernte auf verweste Körper stoßen würden.
    Nach der missglückten Flucht blieb er zunächst mit der Mutter auf dem Hof und wechselte dann auf den Hof seiner Tante und seines blinden Onkels. Denen ging es besser, denn sie hatten von den Amerikanern Pferde kaufen können und hatten auch noch Kühe. Drei Jahre lebte er dort. Es waren Jahre, in denen er sich zu einer gewissen Lockerheit hinreißen ließ. Die Tante schenkte Willi hin und wieder einen Schnaps ein, der Onkel bot ihm Zigaretten an, manchmal wurde sogar getanzt. »Es hat mir dort gut gefallen«, sagt Willi Orzessek. Er erinnert sich, dass er damals aus dem Pietismus seines Elternhauses ausbrechen wollte. Aber dann rief ihn seine Mutter zurück, und Willi ging zurück, aus Pflichtgefühl: »Meine Mutter hatte vier Kinder im Krieg verloren, da konnte ich nicht auch noch weg.«
    Viele Menschen seien an ihren Kriegserinnerungen zerbrochen. Seine Mutter hingegen ist 96 Jahre alt geworden und hielt sich bis zuletzt geistig und körperlich in Form. »Das Beten und der feste Glaube, dass das Leben auf Erden nichtig ist, haben ihr die Kraft gegeben, es hier so lange auszuhalten.« Willi Orzessek lächelt, weil er das Paradoxe seiner Aussage bemerkt hat. Jedenfalls, sagt er, sei er froh, dass er damals, mit siebzehn, die Kurve gekriegt und sich für Jesus entschieden habe.
    Er blieb bei seiner Mutter in Polen, bis er 1962 seiner Braut nachreiste, der er sich versprochen hatte und die später Arnos Mutter werden sollte. Er ließ sich in Osnabrück nieder und gründete eine Familie. Er verschob bis zu seiner Pensionierung Lasten von einem Wagon der Deutschen Bahn zum nächsten Wagon der Deutschen Bahn. Und er gründete innerhalb der evangelischen Landeskirche Osnabrücks einen pietistischen Gebetsverein.
    »Ohne den Pietismus wäre mein Vater womöglich ein kleinbürgerlicher Spießer ohne Konturen geworden«, sagt Arno Orzessek. Die Religion habe ihm einen gewissen spirituellen Horizont gegeben. Auf die Frage, was der durch den Vater vermittelte Pietismus ihm selber angetan habe, fällt die Antwort gemischter aus.
    So erinnert er sich zum Beispiel an die Geräusche aus dem Fußballstadion, an dem er jeweils vorbeifuhr. Das sei »der Sehnsuchtssound seiner Kindheit« gewesen. Eine Entbehrung also, die im Rückblick auch ihr Gutes hatte. Dass er Fußballübertragungen nur unter der Bettdecke und übers Radio verfolgen konnte, sei ihm ein »starker Quell für Imagination« gewesen.
    Ähnlich komplex ist sein Verhältnis zur Lutherbibel. Als Kind musste er sie so oft hören und lesen, dass er sie fast auswendig dahersagen kann. Heute ist sie ein sprachliches Fundament, das ihn als Schriftsteller und Journalist stärkt: »Das biblische Pathos, die rhetorische Wucht und damit immer auch ein Element des Übertriebenen, das hat mich geprägt.«
    Dass er kaum in die Arme genommen wurde, weil sich das Keuschheitsgebot des Pietismus auch auf den Umgang mit Kindern ausdehnte, habe er, der Erinnerung nach, nicht vermisst, sagt Arno Orzessek. Doch als das körperliche Begehren erwachte, litt er unter inneren Spannungen. Obwohl er sich dem Glauben seiner Eltern nie zugehörig fühlte, habe er deren Sündenbewusstsein offenbar übernommen. Körper ist Sünde, Begehren ist Sünde, Lust ist Sünde. Später entdeckte er, dass der Gedanke, etwas bei Strafe der Verdammnis Verbotenes zu tun, sein Vergnügen ins Unendliche steigern konnte. Das Beste: Volles Sündenbewusstsein bei größter Freizügigkeit.
    Aber nicht nur das Sündenbewusstsein, auch das alles bestimmende Gefühl der Angst hat ihn erfasst: »Es war ja nichts anderes da als diese Ordnung der Dinge. Natürlich habe ich immer wieder mal in Erwägung gezogen, dass es eben doch stimmen könnte, was da erzählt wurde vom Fegefeuer und vom Jüngsten Gericht.« Bis heute überfällt ihn manchmal eine sehr ernsthafte Besorgtheit, dass die vernichtende Katastrophe über ihn kommen könnte, dass er keine Aufträge mehr bekomme, nicht mehr schreiben könne.
    Diesen

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