Liebe lieber lebenslänglich: Roman (German Edition)
würde, dann würde ich mich sicher an den Titel erinnern.
»Aah!«, entfährt es mir.
Mein Fuß knickt weg, und ich taumele einen Augenblick lang rückwärts. Es gelingt mir, mich am Treppengeländer abzufangen, dann stöhne ich erneut. Mein Bauch. Es fühlt sich an, als hätte mir jemand die Faust hineingerammt. Gott, tut das weh! Meine Fingerknöchel werden weiß, während ich mich am Geländer festklammere.
»Grace!« Anton stürzt zu mir.
Ich krümme mich auf der Treppe und stöhne.
Oh, nein. Bitte nicht. Lass es nicht das sein, was ich befürchte.
»Nein!«, schreie ich.
»Grace, komm, ich bringe dich rein. Dann kannst du dich setzen.«
Ich schüttle den Kopf und ziehe eine Grimasse, als die nächste Schmerzattacke anrollt.
»Okay, ich fahre dich ins Krankenhaus«, sagt Anton plötzlich.
Er geht nicht einmal mehr in die Wohnung zurück, um seine Jacke zu holen oder die Gitarre abzulegen. Er geleitet mich einfach die Treppe hinunter und hinaus zu seinem Wagen.
66
»Sie hat das Baby verloren. Es tut mir sehr leid«, sagt die Krankenschwester zu Anton.
Er bleibt ein paar Sekunden lang still, dann nickt er und dreht sich zu mir um. Ich bewege mich nicht. Ich habe mich in einem Krankenhausbett zusammengerollt. Es ist spät. Es ist alles aus.
Anton bleibt die ganze Nacht bei mir. Wir reden kein Wort, aber ich weine. Ich lasse die Tränen heraus, die ich seit fast zehn Jahren zurückhalte. Es sind so viele, dass es die ganze Nacht dauert. Anton streicht mir über die Haare und hält manchmal meine Hand. Er gibt mir ein frisches Taschentuch, wenn das alte durchgeweicht ist, und er spielt leise Gitarre. Nach einer Weile erkenne ich das Stück. Es ist Annie’s Song . Das Stück, das mein Vater meiner Mutter am Tag ihrer Hochzeit vorgesungen hat. Das Stück, das alle Gäste zum Weinen gebracht hat.
Gegen sechs Uhr morgens, als die Sonne aufgeht, beherrscht Anton die Melodie auf der Gitarre und beginnt zu singen, aber der Text ist falsch. Das weiß ich, weil ich ihn, seitdem ich zehn war, auswendig kann. Anton gerät ins Stocken. Er weiß, dass er den falschen Text singt, aber er weiß nicht, wie er richtig lautet.
Ich liege da und warte, dass er wieder von vorn beginnt, dann übernehme ich den Gesangspart. Ich singe das ganze Lied für ihn. Ich singe ihm dieselben Zeilen vor, die mein Vater meiner Mutter vorsang, bevor ich geboren wurde.
» Let me lay down beside you, let me always be with you. Come let me love you .«
Ich singe für Anton, weil ich diesen Mann liebe. Für den großartigen, wunderbaren Anton, der viel zu alt für mich ist und meine Liebe nicht einmal erwidert. Aber das spielt keine Rolle, weil ich die Worte so meine und sie Anton vorsingen möchte, damit er Bescheid weiß. Weil wir nur den Moment haben, und weil das Leben viel zu kurz ist.
Als ich fertig bin, sind meine Tränen versiegt. Ich liege ganz still da. Ich atme zum ersten Mal seit Stunden wieder normal. Anton steht auf, beugt sich über mich und drückt mir seine Lippen auf die Stirn. Er lässt sie in einem Kuss darauf ruhen. Dann schlafe ich ein, und als ich aufwache, ist er weg.
»Hey«, sagt Wendy, als sie sieht, dass ich die Augen öffne.
Ich schiebe bei ihrem Anblick mit dem Finger meine Mundwinkel nach oben, aber es ist kein Lächeln, weil meine Stirn gerunzelt ist und meine Augen traurig dreinblicken.
»Hey«, forme ich mit den Lippen.
»Anton hat mich angerufen«, sagt sie leise. »Er dachte, du bräuchtest vielleicht weibliche Unterstützung.«
Über Wendys Schulter hinweg sehe ich meine Mutter vom Besucherstuhl aufstehen und zu mir kommen. Ich will mich im Bett aufsetzen, aber sie drückt sachte gegen meine Schulter. Also lasse ich mich wieder zurücksinken. Wendy geht zur Seite, und Mum hockt sich auf das Bett. Sie nimmt meine Hand. Ich starre sie nur an, staunend und dankbar, dass sie da ist.
67
Es ist einer von diesen Tagen, die wissen, dass es ein Trauma gegeben hat: still, grau, besorgt. Ich bin auf dem Friedhof, weil das Leben weitergeht. Na ja, nicht für den Winzling, der nie auf die Welt kommen durfte, und auch nicht für die Toten, die hier liegen, aber für mich.
Ich habe im Grunde nicht viel Ahnung von irgendwas, aber ich weiß, wenn sehr negative Dinge im Leben passieren, muss man die positiven Kleinigkeiten schätzen lernen. Sonst breitet sich das Negative in allen Ecken aus, und man sieht nur noch schwarz. Genau das ist passsiert, als Dad starb. Mum begann, mich zu hassen. Lange Zeit gab es
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