Liebe lieber lebenslänglich: Roman (German Edition)
kann mich nicht überwinden, Anton zu bitten, die Musik auszuschalten. Stattdessen lasse ich die Augen zu. Anton singt die ersten Textzeilen: » When you’re weary, feeling small. When tears are in your eyes, I will dry them all .«
»Du bist dran«, sagt Anton leise während des Klavierrefrains vor der dritten Strophe, genau wie Dad es getan hätte.
»Du bist gemein, das ist der anstrengende Part«, erwiderte ich dann immer flüsternd, weil ich die schwierigen Parts singen musste.
Anton singt Songs genau wie Dad damals, und ich habe das Gefühl, als würde mein Vater zu mir sprechen. Er sagt gerade, dass alles wieder gut wird.
» You shine , Gracie Flowers«, sagt Anton am Ende des Songs.
Ich kann ihn nicht anschauen, weil es mir vorkommt – und mir ist bewusst, dass das völlig durchgeknallt klingt –, als hätte mein Dad gesagt, dass er stolz auf mich ist. Obwohl ich nicht glaube, dass Dad auf mich stolz sein würde. Nicht wirklich.
»Danke«, sage ich schniefend.
Dann öffnet die Polizistin die Beifahrertür, und ein kalter Luftzug holt mich abrupt wieder zurück in die Gegenwart.
17
»Oh, Gracie Flowers, es hat keinen Zweck. Du siehst aus wie eine geschminkte Pflaume.«
Ich seufze traurig angesichts meines Spiegelbilds. Die Blutergüsse zu überschminken funktioniert nicht, also habe ich mir ein Tuch um den Kopf gewickelt, um den Verband zu verbergen, und nun sehe ich aus wie eine Wahrsagerin mit einem gewalttätigen Ehemann. Ich habe heute Morgen eine Ewigkeit gebraucht, um mich herzurichten. Sogar noch länger als an dem Morgen nach Wendys letzter Geburtstagsfeier, und ich hätte nicht gedacht, dass ich das noch toppen könnte. Ich musste mich schon viermal übergeben.
»So habe ich mir das heute nicht vorgestellt. Ich wollte die Chefin sein und kein grün-blaues Wunder«, stöhne ich. »Was tun, Gracie Flowers? Was tun? Dein siebenundzwanzigstes Lebensjahr scheint es nicht gerade gut mit dir zu meinen. Man braucht bloß dieses verkorkste Geburtstagswochenende zu nehmen. Obwohl ich die Zeit in Antons Wagen schön fand. Wie traurig«, sage ich und zeige auf mein Spiegelbild. »Der Höhepunkt an deinem Geburtstagswochenende war also, in einem Jaguar zu sitzen und darauf zu warten, von der Polizei zu dem Überfall befragt zu werden. Krieg dich mal wieder ein, Mädchen.«
Aber die Wahrheit lautet, dass ich aus irgendeinem Grund tatsächlich die Zeit genossen habe, die ich gestern Abend in Antons Wagen verbrachte. Ich weiß nicht, warum, ich fühlte mich dort einfach so wohl wie schon lange nicht mehr irgendwo. Es ist lächerlich. Ich bin ein glücklicher Mensch. Ich habe Danny, einen Job, eine Wohnung. Es muss an dem Schmerzmittel gelegen haben. Ich muss unbedingt herausbekommen, was genau das war und wie ich davon mehr bekommen kann.
Ich trete einen Schritt vom Waschbecken zurück, atme dreimal tief durch, stelle mich gerade hin und sehe mir selbst in die Augen. »Wie lautet der Plan?«, frage ich laut.
Mein geschwollenes Gesicht starrt ausdruckslos zurück, und meine Schultern sacken nach vorn, weil ich keinen Schimmer habe, wie der Plan lautet, und weil ich müde bin.
Ich bin müde, weil ich nur drei Stunden geschlafen habe. Nachdem die nette Polizistin meine Aussage aufgenommen hatte, brachte man mich in die Unfallambulanz, wo meine Platzwunde am Kopf genäht wurde. Ich hätte die Schwester im Krankenhaus auf die Pille danach ansprechen sollen, aber Anton war die ganze Zeit bei mir, und ich bezweifelte stark, dass er von meinem problematischen Zwei-Minuten-Samstagmorgen-Quickie mit Danny hören wollte. Aus diesem Grund habe ich diese blöde Pille immer noch nicht genommen. Wahrscheinlich amüsieren sich die lästigen kleinen Spermien prächtig.
»Der Plan lautet, diesen Schnösel so schnell wie möglich aus der Firma zu vergraulen. Du musst ihm und Schleimi und allen anderen beweisen, dass du der richtige Mann für diesen Job bist. Zeig ihnen, dass du Eier in der Hose hast, Flowers!« Ich zucke zusammen. Ich fände es schrecklich, Eier zu haben. »Genau das wirst du tun, Grace – hart arbeiten. Härter als alle anderen. STRENG DICH AN, GRACE, UND ZEIG IHNEN, DASS DU EIER IN DER HOSE HAST !«
Mein Blick huscht zu meinem neuen Fünfjahresplan, der leer an der Wand hängt und darauf wartet, ausgefüllt zu werden. Ich nehme den Filzstift in die Hand, den ich absichtlich dort deponiert habe, um meine nächste Mission zu notieren. Ich ziehe den Deckel ab.
In einem Jahr werde ich …
In zwei
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