Liebe lieber lebenslänglich: Roman (German Edition)
Dad, schaffe ich das allein? Das Kind wird keinen Daddy haben.«
Grace, halte ich mir im selben Moment vor Augen, es hat einen Daddy.
»Ich muss mit Danny reden, nicht?«, sage ich plötzlich. »Dad, soll ich das Kind bekommen?«
Das Problem mit Verstorbenen ist, dass sie keine direkte Antwort geben, wenn man dringend eine braucht.
»Dad, ein Baby stand sicher nicht auf dem Plan. Nicht einmal ganz unten.«
Ich zeichne mit dem Finger seinen Namen auf dem Grabstein nach. Camille Flowers.
»Ich habe sogar schon einen Namen ausgesucht, Dad, was bestimmt ziemlich dumm war. In der Abtreibungsbroschüre wird nämlich eigens davon abgeraten. Camille, wenn es ein Junge wird, Camilla für ein Mädchen. Dad, warum habe ich dem Kind schon einen Namen gegeben? Ich hätte es bei der Kichererbse belassen sollen. Wie kann ich es abtreiben, wenn ich schon seinen Namen kenne? Was soll ich tun, Dad?«
Ich sitze da und warte auf ein Zeichen, aber nichts passiert. Einen Moment lang scheint es, als ob die Sonne durch die Wolken bräche, aber das hat nichts Himmlisches. In der Ferne höre ich einen Zug, was mir auch nicht bei der Entscheidung Kind ja oder nein weiterhilft. Ich spüre Regentropfen, und ein Vogel raschelt in einem Baum. Es ist alles wie immer. Vielleicht ist das ja das Zeichen. Vielleicht ist es das, was Dad mir zu sagen versucht, nämlich dass das Leben weitergeht. Dass niemand diese Entscheidung treffen kann außer mir selbst.
»Aber es ist so schwer, Dad.« Ich seufze, und ich weiß, dass er mir zustimmt. »Natürlich kannst du mir kein Zeichen geben. Tut mir leid, ich mache das immer mit dir.«
Kurz darauf kommen Leonard und Joan, und ich spüre, dass ihre Schritte langsamer werden, als sie mich so traurig vor Dads Grab sitzen sehen. Ich drehe den Kopf und schenke den beiden ein Lächeln, um ihnen die Scheu zu nehmen, sich mir zu nähern.
»Sieh mal, wen wir gefunden haben«, sagt Joan sehr sanft, aber ich habe meine Mutter schon entdeckt. Rosemary Flowers, die seit fast drei Jahren das Haus nicht verlassen und seit zehn Jahren diesen Ort nicht mehr besucht hat, geht zwischen Leonard und Joan. Sie sieht kreidebleich aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Wir starren uns einen Moment lang an.
»Dein Vater fand, ich sollte heute kommen. Er war sehr hartnäckig«, sagt sie leise.
»O Mum«, seufze ich.
Sie lässt Leonard und Joan stehen und geht mit unsicheren Schritten allein weiter, bis sie neben mir steht.
»Mum, ich bin schwanger«, flüstere ich.
Sie geht in die Hocke und kniet sich auf den Boden vor das Grab ihres Mannes, dann legt sie den Arm um mich. Es ist eine liebevolle Geste. Es ist die liebevolle Geste einer Mutter, nach der ich mich immer so gesehnt habe.
»Mum, ich möchte das Kind bekommen.«
Wir bewegen uns nicht – wir verharren einfach in unserer Umarmung vor Dads Grab. Keine von uns bemerkt, dass Leonard und Joan sich leise zurückziehen. Ich weiß nicht, wie spät es ist, doch ich bin mir sicher, dass wir fast eine halbe Stunde so dahocken.
Schließlich fängt es an zu regnen. Meine Mutter steht auf und reicht mir die Hand. Wir gehen zurück zu meinem Wagen und fahren nach Hause.
54
Nach dem Tod meines Vaters haben meine Mutter und ich wie zwei echte Schrullen gelebt. Mum fing an, viel Zeit im Bett zu verbringen, während ich in Dads Arbeitszimmer hockte und jede einzelne seiner Schallplatten abspielte. Die Zeit wurde nur unterbochen, wenn Danny vorbeikam, ich einkaufen oder auf den Friedhof ging oder Mum mir aus heiterem Himmel vorschlug, mich für ENGLAND SUCHT DEN SUPERSTAR zu bewerben. Zuerst war es, als würden wir darauf warten, dass Dad zurückkehrte, dass uns ein Gesandter aus dem Totenreich erschien und sagte »Tut uns schrecklich leid, wir wollten Camille eigentlich gar nicht holen. Er ist schon auf dem Rückweg. Er wird zum Abendessen zu Hause sein.« Noch eine Ewigkeit danach flatterte Post für ihn ins Haus, oder das Telefon klingelte und eine Stimme verlangte nach ihm, und es gab immer einen Augenblick, einen fabelhaften, flüchtigen Augenblick, in dem er noch präsent und das Leben normal zu sein schien. »Moment, ich hole ihn an den Apparat«, sagte ich dann, legte den Hörer zur Seite und wollte gerade »Dad!« rufen, bevor es mir wieder einfiel. Es war, als würde man eine hässliche Wahrheit erfahren, die man immer wieder neu erlernen musste.
Das Leben um uns herum ging weiter, aber Mum und ich waren in der Vorhölle gefangen, unfähig weiterzukommen.
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