Liebe, Lust und Lesebrille
der Zugewandtheit oder eher der Abgewandtheit?
Wie geht es mir damit? Was würde ich gerne thematisieren?
Und was gefällt mir besonders gut?
Im Übrigen ist es auch ein häufiges Muster in Beziehungen, dass der eine zum drängenden Partner, der andere zum sich gedrängt fühlenden Partner wird. Hier sind beide Partner in ein Spiel miteinander verwickelt, das sich manchmal über Jahre hinweg einpendelt, ohne sich jemals zu ändern. Dass das Schweigen des einen aber auch oft etwas mit dem Tun des anderen zu tun haben kann, kann man am folgenden Beispiel gut sehen:
Herr und Frau P. kamen in Beratung, weil sie Probleme mit ihrer 11-jährigen Tochter hatten. Nachdem sich die Gespräche eine Weile lang um die Tochter und deren »schlechtes Benehmen« drehten, sprach die Beraterin die beiden auf den derzeitigen Stand ihrer Ehe an. Ratloses Schweigen machte sich breit. Es stellte sich heraus, dass dieses ratlose Schweigen sehr gut den Zustand ihrer Partnerschaft symbolisierte. Beide wussten nicht so recht, was sie sagen sollten. Aber beide hatten auch Angst, vondieser Ratlosigkeit und Leere zu sprechen. Auf die Frage, wie es ihnen denn miteinander ginge, wussten beide keine Antwort. Auf die Frage, worüber sie denn miteinander redeten, wenn die als problematisch erlebte Tochter mal kein Thema sei, fiel ihnen auch nichts ein.
Im Laufe der Beratung wurde deutlich, dass Frau P. es schon lange aufgegeben hatte, etwas aus ihrem Mann »herauszukitzeln«. Er schien von ihren Fragen genervt zu sein und sich schnell von ihr bedrängt zu fühlen. Gleichermaßen stellte sich heraus, dass Herr P. unter dem Grundgefühl litt, ohnehin nicht viel zu melden zu haben, weil seine Frau so dominant sei und er in der Familie nur das fünfte Rad am Wagen. Er kannte diese schmerzlichen Gefühle aus seiner Kindheit.
Frau P. war von dieser Erkenntnis überrascht und fing im Alltag an, sich zu Hause ein bisschen in Zurückhaltung zu üben. Sie überließ ihm öfter die Tochter und konzentrierte sich mehr auf sich selber.
Herr P. lernte langsam, sich zu öffnen, und merkte, dass seine Frau wirkliches Interesse an seiner Gefühlswelt hatte, ohne diese kontrollieren zu wollen. Das hatte er in seiner Kindheit nicht kennengelernt, und er brauchte viel Zeit, um genug Vertrauen zu gewinnen. Das Paar kam aber langsam besser in Kontakt miteinander, ihre Partnerschaft wurde wieder lebendiger und fröhlicher. Und es geschah noch etwas, das in solchen Fällen sehr häufig passiert: Die Probleme mit der Tochter reduzierten sich schlagartig.
Lieber gar keine Kommunikation als Krach? Warum Dauerharmonie oft nur Vermeidungsverhalten ist
Befragt man Menschen danach, was ihnen in der Partnerschaft besonders erstrebenswert und wichtig erscheint, hört man häufig das Bedürfnis nach Harmonie. Laut Fremdwörter-Duden ist Harmonie »innere und äußere Übereinstimmung, Einklang, Eintracht, Einigkeit«.
Sich in einer hektischen, stressigen und wettbewerbsorientierten Gesellschaft nach ein bisschen privater Harmonie zu sehen, ist nur allzu verständlich. Die »glückliche Familie« aus vielen Werbespots ist unser Ideal: Wir lachen und sind entspannt miteinander, sind einfach rundherum zufrieden mit uns und der Welt, alles ist leicht und fröhlich.
Jeder, der in seinem Leben schon mal eine ernsthafte und tiefgehende Beziehung eingegangen ist, weiß, dass es im wirklichen Leben nur sehr selten echte Harmonie gibt. Natürlich gibt es hin und wieder Momente,in denen sich Eintracht einstellt und wir uns miteinander aufs Schönste verbunden und einig fühlen. Und diese innigen Momente sind hoch bedeutend und wichtig für uns und unsere Beziehung.
Doch Harmonie kann in einer lebendigen Partnerschaft kein Dauerzustand ein, weil die Lebendigkeit ja vom Austausch und von der Unterschiedlichkeit der Personen genährt wird. Differenzen wird es also immer dort geben, wo Menschen zusammenleben.
Wir alle wissen eigentlich auch, dass die Liebe eine hochambivalente Angelegenheit ist. Die meisten schlimmen Verbrechen werden innerhalb des engsten Familienkreises begangen; Mord unter Ehepartnern ist leider gar nicht so selten. Wir wissen von zahlreichen »Rosenkriegen«, dass aus der größten Liebe abgrundtiefer Hass werden kann, wenn die Vorstellungen, die ein Partner sich vom anderen gemacht hat, massiv enttäuscht werden. Rasende Wut und massive Rachegelüste entstehen am ehesten dort, wo einmal Liebe zu Hause war.
Doch ist Aggression auch in weit weniger spektakulärer Form
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