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Liebe, Lust und Lesebrille

Liebe, Lust und Lesebrille

Titel: Liebe, Lust und Lesebrille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Roemer
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Recht/im Unrecht sein, schuldig/unschuldig das Leben ein bisschen leichter erscheinen lässt.
    Diese recht schematische Einteilung dient in erster Linie aber auch oft dazu, sich selber ins Recht und den anderen ins Unrecht zu setzen. Besonders, wenn ich eine reine Weste behalten möchte, schiebe ich dem Partner gerne den Schwarzen Peter zu: Wenn ich im Recht bin, kann mein Partner ja schließlich nicht auch im Recht sein! Wenn ich mit meiner Argumentation richtigliege, kann er ja nur Blödsinn reden. Stimmt aber nicht. Denn eine einzige, allgemeingültige Wahrheit gibt es gar nicht. Die Wahrheiten verschiedener Personen nebeneinander stehen und gelten lassen zu können, ist durchaus eine Kunst, die es einzuüben gilt. Ein Beispiel:
    Frau F. erzählt in der Beratung von einem Streit mit ihrem Mann. Der habe in einem Streit eine Vase an die Wand geworfen. »Unmöglich« findet sie das, und vor allem »total unangemessen«. »Dabei hab ich ihm nur gesagt, dass er das Klo nicht richtig geputzt hat! Und das stimmt nun wirklich. Jeder andere würde bestätigen, dass ich recht habe. Ich weiß nicht, warum er sich so aufregt, wenn ich ihm doch nur die Wahrheit sage!«
    Frau F. hat offensichtlich keine Ahnung und auch keinerlei Gespür dafür, warum ihr Mann anlässlich einer »Wahrheit« so ausrasten kann. Er habe ihrer Ansicht nach falsch reagiert, und sie sieht nicht, dass sie selbst irgendeinen Anteil an seiner Reaktion haben könne. Sie beharrt darauf, dass sie Recht habe, dass es sich hier um eine »objektive Wahrheit« handele, die er nur nicht hören wolle. Sie hat nicht das Gefühl, irgendetwas Unrechtes getan zu haben, und pocht darauf, dass sie das richtig sieht und seine Sichtweise falsch sei.
    Erst bei einer genaueren Analyse der Geschehnisse dämmert ihr langsam, was genau geschehen war und dass ihr Mann sich mit ihrer als kalt und lieblos empfundenen Kritik an das »ewige Gemecker« seiner Mutter erinnert gefühlt hatte. Er fühlte sich in die Ecke gedrängt, wie ein kleines Kind gegängelt und verfiel in ein starkes Ohnmachtsgefühl, was darin gipfelte, dass er die Vase an die Wand warf. Am liebsten – so sagte er – hätte er seiner Frau eine Ohrfeige gegeben, aber die Vase war die »bessere Lösung«. Und im Übrigen – so stellte sich weiterhin heraus – wäre die eigentlich richtige Adressatin der (fiktiven) Ohrfeige die Mutter gewesen, die ihren kleinen Sohn damals regelrecht malträtiert hatte.
    Im Laufe der Beratung wurde Frau F. klar, dass es nicht in erster Linie um »objektive Wahrheiten« und »Rechthaben« geht, sondern darum zu versuchen, die unterschiedlichen subjektiven Sichtweisen immer mal wieder miteinander abzugleichen und darüber ins Gespräch zu kommen.
    In Beziehungsangelegenheiten gibt es also keine objektiven Wahrheiten. Das, was wir selbst als Wahrheit oder Wirklichkeit konstruieren, ist ein Resultat unserer ganz subjektiven Wahrnehmung. Unsere Wahrnehmung ist aber stark daran ausgerichtet, was wir in unseren früheren Beziehungen erlebt haben. Je mehr wir bereit sind, auch die Wahrnehmung anderer Menschen in unser Weltbild einfließen zu lassen, desto komplexer und weniger egozentrisch wird unsere Sicht der Dinge sein.
    Auch in der Partnerschaft gilt es also, die eigene subjektive Wahrheit mit der Wahrheit des Partners abzugleichen und zu ergänzen. Erst wenn wir prinzipiell gewillt sind, die Wahrnehmung des anderen als ebenso wichtig und »richtig« zu erleben, können sich echtes wechselseitiges Verständnis und gegenseitige Akzeptanz entwickeln. Das nährt und vertieft die Liebe.
    Ebenso gilt es, in der Liebe – wie auch im restlichen Leben – Ambivalenzen und Widersprüche auszuhalten. Nur weil wir uns ab und zu nerven oder Aggressionen aufeinander haben, heißt das doch nicht, dass wir uns weniger lieben! Im Gegenteil: Je bewusster und offener die Partner mit ihren vielfältigen Gefühlen umgehen können, desto tiefer wird ihr gegenseitiges Verständnis und damit ihre Verbundenheit.
    Ambivalenzen und Widersprüche innerhalb der Beziehung sind nicht immer leicht zu ertragen. Es geht aber immerhin dann schon mal besser, wenn wir uns prinzipiell davon verabschieden, in solch vereinfachenden Kategorien wie gut/schlecht, richtig/falsch usw. zu denken.
    Eine weitere Hilfe, einen Menschen oder auch eine Partnerschaft in all ihren – auch vermeintlich widersprüchlichen – Facetten erfassen zu können, ist die additive Sichtweise.
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    Kleine Übung: Denken Sie additiv!
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