Liebe, Lust und Lesebrille
wenn der andere merkt, dass ich nicht nur der brave Typ bin, für den ich mich immer ausgebe? Was, wenn mein Partner meine dringendsten sexuellen Wünsche kennt? Liefere ich mich dann aus? Macht sich mein Partner dann lustig über mich oder verachtet er mich?
Diese Gefahr besteht ja auch tatsächlich, insofern ist es nicht ganz unberechtigt, sich zu überlegen, was man alles von sich zeigen und erzählen mag. Erfahrungsgemäß ist es aber so, dass Partner, die sich gegenseitig offenbaren, tiefer miteinander in Beziehung kommen als solche, die sich gar nicht oder nur von ihrer vermeintlichen Schokoladenseite zeigen.
Also: Haben Sie den Mut, sich zu zeigen, wie Sie sind. Muten Sie sich Ihrem Partner/Ihrer Partnerin zu.
Damit meine ich natürlich nicht, dass man einen Freifahrtschein dafür hat, dem Partner hemmungslos alles um die Ohren zu schleudern oder ihn bewusst zu kränken. Aber einen Partner immer zu schonen, bedeutet auch, ständig einen Teil meiner Persönlichkeit zu verbergen und den anderen nicht richtig an mich heranzulassen. Das ist ja nun auf Dauer auch keine Lösung. Oder?
10. Ausdifferenzierung: Arbeiten Sie an Ihrer persönlichen Entwicklung
Der Weg ist das Ziel. Sie kennen das: Wenn irgendwo Entwicklungsstillstand herrscht, wird es starr, zäh und langweilig. Bei allem Sicherheitsbedürfnis braucht der Mensch immer neue Herausforderungen, um seinen Erfahrungshorizont zu erweitern und immer noch etwas mehr über sich selbst und die Welt zu lernen. Auch an sich selbst und am Partner gibt es immer noch neue Aspekte zu entdecken und zahlreiche kleinere Veränderungen wahrzunehmen.
Die simple Wahrheit ist: Eine Paar-Beziehung kann nur dann lebendig sein, wenn die jeweiligen Partner das auch sind und an sich arbeiten. Das hört sich nach einer Binsenweisheit an. In der Regelhaben aber Erwachsene noch stark wirkende kindliche Anteile in sich, die besonders in Stress- und Konfliktsituationen immer wieder reaktiviert werden. So kann sich ein Mann von seiner Frau beschimpft fühlen und innerlich sofort zu dem kleinen, gedemütigten Kind regredieren, das vor Jahrzehnten von der Mutter hartherzig bestraft wurde. Seine Reaktion wird entsprechend wenig souverän oder »erwachsen« ausfallen, sondern er wird reagieren, wie er es als Kind getan hat: mit Trotz, Wut oder Rückzug.
Oder eine Frau fühlt sich von ihrem Ehemann nicht ausreichend wahrgenommen, was in ihr die Gefühle des kleinen Mädchens hochkommen lässt, das sich einsam und verlassen fühlte. Wenn sie sich über diesen Reaktionsmechanismus nicht im Klaren ist, wird sie ihren Mann als schuldig für diese Gefühle halten. Sie wird nicht wissen, dass sein Verhalten eine alte tiefe Kränkung berührt, und sich entsprechend hilflos fühlen oder wütend auf ihren Mann werden.
An diesen Mustern zu arbeiten, ist sehr hilfreich, um nicht mehr den eigenen Empfindlichkeiten ausgeliefert zu sein. Oft sind es genau diese wunden Punkte, die in Partnerschaften in schöner Regelmäßigkeit getriggert werden. Dann finden sich die Partner mitunter in Endlosschleifen gegenseitiger Kränkungen wieder.
Je mehr wir über unsere Muster und unsere wunden Punkte wissen und je mehr wir an uns und unserer Entwicklung gearbeitet haben, desto differenzierter werden wir.
Den Begriff der Differenzierung hat der US-amerikanische Paar- und Sexualtherapeut David Schnarch maßgeblich geprägt. Er versteht laut Clement darunter, »den Prozess, durch welchen wir ein klar abgegrenztes Selbst entwickeln und dabei in nahen Beziehungen zu den geliebten Anderen bleiben« 16 . Je differenzierter ein Mensch im Laufe seiner Entwicklung wird, desto klarer und präsenter kann er als Gegenüber sein. Er kann dann nämlich »sowohl seinem Partner zustimmen, ohne das Gefühl zu haben, sich selbst zu verlieren, und kann widersprechen, ohne das Gefühl von Verbitterung oder Entfremdung zu haben. Wer differenziert ist, muss nicht auf Distanz gehen, um bei sich bleiben zu können.« 17
Insofern ist es also ein schönes Ziel, sich weiter auszudifferenzieren. Für sich selber ist das wichtig und für die Partnerschaft ebenfalls.
11. Quo vadis, Liebster? Unterstützen Sie Ihren Partner in seiner persönlichen Entwicklung
Ebenso wie an uns selbst zu arbeiten, ist es wichtig, auch den geliebten Partner in seiner weiteren Entwicklung zu unterstützen. Auch das kann Angst auslösen, denn wir wissen de facto nicht genau, in welche Richtung sich unser Partner entwickeln wird. So kann es sein, dass der
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