Liebe macht blind - manche bleiben es
später sagt sie: „Deine Tochter wird einen Fünfer in Englisch kriegen!“
Viele Mütter und viele Väter wissen ganz exakt, was an einem Kind „ihr Kind“ ist und was an demselben Kind dem Partner zusteht.
Die eher unangenehmen Charaktereigenschaften und Angewohnheiten, welche die Mutter an ihrem Kind beobachten muss, hält sie für väterliches Erbteil oder für das Resultat der väterlichen Einmischung in ihre Erziehungsarbeit.
Also ist es nur allzu gerecht, wenn sie sagt: „Dein Sohn hat schon wieder einmal sein ganzes Taschengeld verputzt!“
Und wenn der Vater an der Tochter Eigenschaften feststellen muss, die ihm an seiner Ehefrau schon seit mehr als einem Jahrzehnt unangenehm sind, ist es doch naheliegend, dass er dann sagt: „Deine Tochter telefoniert schon wieder seit einer geschlagenen Stunde!“
Solang diese Mein-Kind-dein-Kind-Teilung in harmonisch funktionierenden Partnerschaften betrieben wird, mag sie ein augenzwinkernd-neckisches Spielchen sein.
Dort aber, wo Ehen gescheitert sind, wird dieses Spiel auch gespielt, und dort wird es grausam, weil dort die Sache eine neue und bösartige Dimension bekommt.
Es ist nämlich ein gewaltiger Unterschied, ob man an seinem Kind Erbgut eines innig geliebten Menschen zu entdecken meint oder Eigenschaften eines inzwischen verhassten Menschen.
Und da der geschiedene Partner zwecks Anklage nicht mehr zur Verfügung steht, bekommt das Kind zu hören: „Ganz wie dein Vater!“
Was für Kinder, die zu geschiedenen Vätern ohnehin ein schwieriges Verhältnis haben, keine erfreuliche Sache sein kann.
„Alle in der Klasse haben es …“
Wenn ich als Kind, um einem Wunsch mehr Nachdruck zu verleihen, meiner Mutter sagte: „Alle in der Klasse haben es!“, lächelte meine Mutter und sprach mild: „Geh, geh, übertreib net!“
Schwächte ich meine Behauptung ab und zählte auf, wer tatsächlich schon im Besitz der ersehnten Sache war, sagte meine Mutter: „Schau net immer nach denen, die alles haben! Schau auch auf die, die gar nix haben!“
Gern hörte ich das nicht, aber irgendwie sah ich es ein. Es war ja auch ein ehrlich-schlichter Standpunkt, der da hieß: Ich biete den Kindern, was meinen Verhältnissen entspricht und noch ein bisschen darüber hinaus. Mehr ist nicht vor mir zu erwarten!
Heutigen Müttern fehlt häufig diese gelassene Einstellung. Meldet der Nachwuchs, dass der Pultnachbar 48 Filzstifte besitzt, rennt die Mama los und kauft seufzend auch so eine unhandliche Blechschachtel. Schickt Mama von heute ihr Kind zu einer Geburtstagsparty, kauft sie kein Mitbringsel, das ihrem Einkommen entspricht, sondern eines, das dem Einkommen der Familie des Geburtstagskindes angemessen erscheint.
Es gibt sogar Eltern, die einen Kredit für eine Schiausrüstung aufnehmen, obwohl ihr Kind nicht gern Schi läuft, die Sachen bloß sieben Schikurstage lang trägt und ein Jahr später dem Zeug entwachsen ist.
„Er soll nicht zurückstehen müssen“, damit werden solche Ankäufe erklärt.
Das ist aber ein Standpunkt, der auf lange Sicht nicht durchzuhalten ist. Statussymbole kleinerer Kinder kann der Durchschnittsverdiener ja gerade noch anschaffen, wenn er selber auf etliches verzichtet. Die Statussymbole der wohlhabenden Jugendlichen jedoch kann er seinem Nachwuchs nicht bieten. Für eine Honda, einen Armani-Mantel, einen New-York-Flug und eine Garçonniere reicht ein Kleinkredit nicht. Daher ist es sinnlos, vor Kindern die Einkommensverhältnisse zu verschleiern, solange es nur geht. Die ökonomische Familienlage ist einem Kind von Anfang an zuzumuten. Mit sechs Jahren lernt man leichter, dass man zu denen gehört, die nur zwölf Filzstifte haben, als mit sechzehn, dass man nicht zu denen gehört, die zum Geburtstag ein Moped bekommen.
Ich plädiere damit nicht für Einübung in Bescheidenheit und Anpassung. Ob sich die Kinder „dreinfinden“ oder sich gegen die ungerechte Verteilung der irdischen Güter empören, ist ihre Sache. Aber sie haben ein Recht auf klare Sicht der Verhältnisse.
Die Bescheidenheit der Mütter
In vielen Familien gibt es ein Problem, das früher kaum auftrat. Kinder weigern sich – oft von einem Tag auf den andern –, die „höhere Schule“ weiter zu besuchen.
Das tun nicht nur Schüler mit schlechten Noten, bei denen dieses Verhalten leicht zu begreifen wäre. Auch Jugendliche mit gutem Schulerfolg erklären immer öfter: „Keinen Tag länger bringt ihr mich in den Tempel!“
Dann fragt man in der Schule
Weitere Kostenlose Bücher