Liebe oder so
an Ort und Stelle durchzuschneiden. Der kleine Cousin schien der Wortführer zu sein, das hätte mir auch schon früher auffallen müssen. Tarik wirkte unentschlossen, nur Ibrahim beruhigte die anderen. Er glaubte mir, und das war das Entscheidende.
Die anderen blieben in der Ecke, als er zu mir herüber kam. „Hör zu, du musst morgen mit Tarik und Murat nochmal nach Averbode fahren. Zeig ihm, wo genau das alles passiert ist. Wir müssen unbedingt den Lieferwagen wiederfinden, verstehst du?“
Ich lief ein Stück durch die Kälte, um bei Leo meinen Wagen abzuholen. Seine Mutter war zu Besuch und brachte die Wohnung auf Vordermann, deshalb nahm ich ihn gleich mit zu mir, als ich seine Miene sah.
„Wie war’s?“, fragte er und musterte mein geschwoll enes Kinn. Es harmonierte wunderbar mit dem blauen Auge, das mir der LKW-Fahrer gestern verpasst hatte.
„Super. Ganz super.“ Durch den Biss auf meine Zunge lispelte ich leicht.
Zu meiner Überraschung saß Marie bei Caro auf der Couch. Sie brachen ihr Gespräch ab, als wir zur Tür rein kamen, und für einen kurzen Moment befürchtete ich, Carolin habe ihr alles von unserem Trip nach Amsterdam erzählt. Am Vorabend waren wir so konfus gewesen, dass wir kaum drei Worte miteinander gewechselt und uns gleich schlafen gelegt hatten. Da ich an diesem Morgen früh wieder aufgebrochen war, hatte sich noch immer keine Gelegenheit ergeben, miteinander zu reden.
Was mich betraf, so hätte ich die Sache gerne unter den Te ppich gekehrt. Obwohl ich wusste, dass Caro über gesunden Menschenverstand verfügte, hatte ich ein bisschen Schiss, sie könne wer weiß was in diese bekiffte Nacht und den Kuss hineininterpretieren.
„ Hi, wie geht’s?“, sagte ich, um Zeit zu gewinnen. Ich war unschlüssig, wie ich mich verhalten sollte. Zum Glück nahm Marie mir die Entscheidung ab und kam zu mir rüber.
„Na, Seemann?“ Und küsste mich. Vorsichtig und sanft. Einfach so. Ich war ein bisschen überrascht, die Sache mit ihr hatte ich mir schwieriger vorgestellt.
„Du hier?“ Der Erleichterung folgte das Misstrauen. Und überhaupt, eigentlich war ich immer noch sauer auf sie, wie kam ich dazu, sie einfach so zurückzuküssen?
Irgendwie war es mir auch peinlich, dies ausgerechnet vor Carolins Augen zu tun. Ich warf einen Blick in ihre Richtung, sie war aufgestanden und holte mit Leo etwas zu trinken.
„Was ist denn mit dir passiert?“, fragte Marie.
„Ach, ich bin bloß gegen nen Bulldozer gelaufen. Und du? Hast lange auf dich warten lassen.“
„Aber jetzt bin ich da.“
„Ja, jetzt bist du da.“ Ich wehrte mich gegen den Drang, sie in den Arm zu nehmen. So leicht wollte ich es ihr nicht machen. Ich brachte es nicht fertig, sie anzusehen, sonst wäre ich weich geworden. Stattdessen guckte ich geradeaus.
Sie räusperte sich. „Hör zu, das mit der Party ist blöd gelaufen. Er war nicht eingeladen, das kam so überraschend. Ich weiß, das war nicht okay, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte.“
„Tja.“
„Aber ich hab mich gefreut, dass du angerufen hast.“
„Sc hön“, sagte ich, immer auf das Aber wartend, das mich wahrscheinlich am Ende dieses Gespräches noch erwartete.
Eine Pause entstand . Ohne mein Zutun wandte mein Kopf sich ihr zu, aha, und da waren auch ihre Augen.
„Ich hab dich vermisst“, sagte sie.
„Ach, wirklich?“, wollte ich antworten, aber meine Sentimentalität fiel mir in den Rücken, flüsterte mir ins Ohr, ich solle kein Schuft sein, sie sei doch nicht hier, wenn es nicht stimmte.
Ja, ich weiß, ich hätte den Augenblick einfach genießen sollen, aber es gehört wohl zur Natur des Menschen, dass er immer dann am misstrauischsten reagiert, wenn ihm unerwartet was Gutes widerfährt. Mich jedenfalls ritt der Teufel, die vergifteten Gedanken der letzten Wochen sickerten wie aus einem Tropf in meine Venen. Trotzdem bekam es nicht hin, meine Wut auf sie wieder voll zu entfachen. Ich wollte keine Rache, nicht mal eine Entschuldigung. Ich wollte Marie.
„Bleibst du über Nacht?“, hörte ich mich fragen.
„Ja.“ Sie schien überrascht. Wahrscheinlich war sie kurz davor gewesen, die Kurve zu kratzen.
Mehr gab es nicht zu sagen, der Rest würde sich fi nden. Mehr war auch nicht möglich, denn Carolin und Leo kamen hinzu und bezogen uns in ihre Debatte über die korrekte Haarlänge von Herrenfrisuren ein.
„Oder?“, bekam ich gerade noch mit, denn meine Sinne waren gerade noch voll auf Marie ausgerichtet
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