Liebe Unbekannte (German Edition)
beschloss Gábor, doch lieber alles verstanden zu haben. Und dementsprechend glaubte er, der Dokumentarfilm über die Bibliothek sei nun eine verlorene Sache.
Gábor Kender wäre jedoch nicht Gábor Kender gewesen, wenn er so leicht aufgegeben hätte. Kornél war schon immer so gewesen: Zuerst Feuer und Flamme für etwas, in das er die anderen hineinzog, dann wurde er der Sache schnell überdrüssig und ließ sie fallen. Da kam jedoch Gábor an die Reihe! Er beschloss, die Bibliothek werde ihm gefallen, komme, was wolle. Das würde seine erste Aufgabe dort sein.
Als er die Bibliothek zum ersten Mal betrat, fühlte er sich tatsächlich gleich zu Hause, da ihn folgende makellose Szene empfing: Neben der Pförtnerloge stand der alte Pförtner, hielt eine Rede, im Mund und in der rechten Hand hatte er ein Salamibrötchen, in der linken Emőke Széles, die ihm den durchgeschmolzenen Dichtungsring einer Espressokanne zeigte, was sie jedoch bereits bereute.
„Glauben Sie mir, Erzsike, dieses ganze moderne Durcheinander haben wir dem Gummi zu verdanken. Solange es keinen Gummi gab, gab es auch keine Probleme. Früher war ein Seil nämlich wirklich ein Seil. Es dehnte sich nicht. Es hielt ordentlich. Denn ein richtiges Seil dehnt sich nicht, es hält. Deshalb ist es ja ein Seil. Erst seitdem es Gummiseile gibt, ist alles so schwammig geworden. Man weiß nie, wie lang ein Seil nun eigentlich ist. Zwei Meter oder dreieinhalb. Früher gab es das nicht, müssen Sie wissen. Ein Seil war entweder zwei Meter lang oder dreieinhalb. Und heute kann man alles dehnen und dehnen. Na, zeigen Sie den Gummi mal her. Hab ich’s nicht gesagt! Er ist geschmolzen. Der hätte längst ausgetauscht werden müssen.“
„Liebster Onkel Öcsi“, krächzte Emőke Széles, die eine wunderschöne tiefe Stimme hatte, aber auch sehr gerne krächzte. „Das weiß ich doch! Deshalb bin ich hier. Ich bräuchte tierisch dringend einen genauso großen Gummi. Ich sterbe ohne Kaffee.“
Onkel Öcsi mochte es, von den jungen Frauen mit „Liebster Onkel Öcsi“ angesprochen zu werden, und das wussten die jungen Frauen wie Emőke Széles. Und Gábor sah sofort, dass es nicht einfach war, mit diesem Onkel Öcsi umzugehen und er hatte das Gefühl, zu Hause angekommen zu sein.
In dem Moment betraten Tante Gizella und Elemér das Gebäude. Sie liefen Arm in Arm, wie jeden Morgen seit Beginn des Spätherbstes. Elemér hakte sich in der Bushaltestelle stets bei Tante Gizella ein, um auf der vereisten Straße nicht hinzufallen und Tante Gizella erklärte ihm hin und wieder, dass sich eigentlich die Frau beim Mann einhaken sollte und nicht umgekehrt. Sie betraten also die Eingangshalle und Tante Gizella mischte sich sofort in die Diskussion ein.
„Árpád, nehmen Sie die Hand von Emőke.“
„Hand?!“, erwiderte Onkel Öcsi, und Gábor sah sofort, was er meinte, denn die Hand, die er von Emőkes Taille nahm, war eine künstliche Hand. Die Originalhand hatte er in einem der Weltkriege verloren, in welchem, darüber waren sich die Bibliotheksleute jedoch nicht einig, denn er hatte an beiden teilgenommen, jeden überlebt, und er verfügte immer noch über außerordentlich viel Lebenslust.
„Emőke, Liebste, ich habe dir doch gesagt, dass ich einen Gummi mitbringe“, sagte Tante Gizella.
Onkel Öcsi zwinkerte Gábor zu, ja, ja, so seien die Frauen. Gábor grinste. Ihm gefiel Onkel Öcsi, und alles andere auch.
Also blieb er auch kein untätiger Beobachter. Er analysierte die Szene hinsichtlich der für den Dokumentarfilm relevanten Aspekte: Von den drei Akteuren waren aufgrund ihres Alters zwei (Tante Gizella und Onkel Öcsi) so schnell wie möglich zu befragen, einer (Elemér) könnte dem Ganzen eine interessante Note geben und Emőke Széles … Nun ja, Emőke Széles. Aus dem Namen Emőke schloss er, dass Emőke Széles höchstpersönlich vor ihm stand. Auf den Fotos, die er von ihr gesehen hatte, hatte sie noch lange Haare. Und jetzt waren sie rappelkurz.
Emőke Széles war mit den zwei Zentimeter kurzen Haaren und dem knöchellangen Mantel eine außerordentlich attraktive Erscheinung. Gábor erkannte diesen schwarzen Ledermantel sofort: Das war ja Kornéls knielanger, schwarzer Ledermantel! Diesen Mantel hätte er unter tausend anderen erkannt, da er hinten, in Herzgegend, durchgestochen war. Kornél und er hatten die Wunde des Mantels früher gemeinsam untersucht und darüber gegrübelt, womit man ihn durchgestochen hatte – und vor allem, was das
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