Liebe Unbekannte (German Edition)
Ergebnis des Stichs gewesen war. Tod, keine Frage. Kornél nähte die Stelle mit Lederbändern und trug ihn. So einen Mantel vergisst man nicht, also war das Emőke Széles!
Für sie hatte Gábor auch unbekannterweise stets eine gewisse Zärtlichkeit empfunden. Auf den Fotografien hatte er sie ausgesprochen schön gefunden, denn er entwickelte seinen Geschmack nach Plan. Und nun war er überrascht, dass sie doch relativ hässlich war. Wobei sie schon Stil hatte. Und ein charakteristisches Gesicht. Gábor sagte damals der Ausdruck
jüdische Frau
nichts als das, was ihm die Lektüre der paar tausend Seiten über jüdische Frauen und alles, was sie betraf, vermittelt hatte. Aber eine echte jüdische Frau, von der ihm auch noch jemand gesagt hätte, na, hier kommt eine echte jüdische Frau, hatte Gábor noch nie gesehen. Die jüdische Bevölkerung seiner Geburtsstadt war in Auschwitz umgekommen, in seiner Wirklichkeit existierten also keine Juden, außerdem beschäftigte sich seine Generation bereits mit anderen Dingen, vor allem mit Rockmusik. Aber es gab in der älteren Generation noch viele, die sich mit Juden auskannten, zu gut sogar, deshalb ging es in den paar tausend Seiten, die Gábor über jüdische Frauen gelesen hatte, auch um diese Leute, ja, mindestens so sehr, wie um die jüdischen Frauen selbst, diese älteren Fachleute für jüdische Fragen schwiegen jedoch – zumindest in Gábors Umfeld. Mangels eines Experten für jüdische Fragen, sagte Gábor, wenn das Thema, zum Beispiel im Gespräch mit Kornél, ganz selten doch aufkam, selbstgefällig, Jude sei für ihn jemand, der genauso sei wie alle anderen. Emőke Széles war jedoch nicht wie alle anderen, sondern sie war eine charakteristische jüdische Frau, und Gábor sah sie und verstand nicht, wodurch diese Frau so anders war als die anderen.
Kornél hatte ihm nicht erklärt, was es mit Emőke Széles’ Herkunft auf sich hatte. Er wollte nicht weiter auf dieses Thema eingehen, da er seit seiner Kindheit gehofft hatte, seine Mutter sei vielleicht doch Jüdin, ganz gleich, wie eifrig sie die Gottesdienste der Budapester Franziskaner besuchte. (Und ganz gleich, wie regelmäßig und heftig sein Vater die Juden kritisierte.) Leider hatte er aber an sich noch nichts entdeckt, das ihm Grund zur Hoffnung gegeben hätte. Kornél war der Meinung, es sei besser, Gábor in seiner glücklichen Unwissenheit zu lassen.
Emőke Széles trug unter dem lässigen Ledermantel ein aus Flicken genähtes Clownskleid. Sie hatte es selbst genäht. Die meisten Flicken waren orange, daher dominierte diese Farbe den Gesamteindruck. Die Geschichte dieses Kleidungsstücks ging auf eine spöttische Bemerkung Antal Szerbs zurück, die dieser in seiner Geschichte der Weltliteratur über ein grässliches orangefarbenes Kleid fallen lässt, in dem Mme de Staël Goethes Mutter besucht hatte. Dieses alptraumhafte Kleid soll „noch lange durch die deutsche Literatur gegeistert sein“, schreibt Antal Szerb. Mme de Staëls Verstand imponierte Emőke Széles, und sie liebte Antal Szerb über alles, der übrigens – und das wusste auch Gábor – gegen Ende des Krieges bei Sopron von einem gut ausgebildeten Team von Fachleuten für jüdische Fragen hingerichtet worden war.
„Wen suchen Sie?“, fragte Onkel Öcsi.
„Meinen Freund.“
„Kornél, wie?“, fragte Onkel Öcsi und zog eine Grimasse.
Gábor nickte. Er blickte an sich hinunter: War es ihm etwa anzusehen?
„Ich werde hier arbeiten. Ich bin kein Leser.“
„Niemand hier ist Leser“, erwiderte Onkel Öcsi. „Zeigen Sie mir einen Leser. Hier treiben sich alle nur herum.“
Dieser Satz wurde von einer abfälligen Geste in Richtung Haupttreppe begleitet, da sich dort jedoch niemand befand, traf die Kritik die Atlas-Skulpturen rechts und links der Haupttreppe. Sie trieben sich natürlich nicht herum, Kritik verdienten sie trotzdem, da sie, obgleich sie Atlanten waren, nichts hielten. Einst, bevor das Prachttreppenhaus zerschossen worden war, hatten sie dessen Konstruktion gehalten. Jetzt standen sie nur zwecklos herum, als hätte man ihnen jeweils ein Firmament von der Schulter gestohlen.
Dann wurde Gábor Zeuge einer höchst seltsamen Szene.
Er folgte Emőke und Tante Gizella mit seinen Augen und sah auf einmal Kornél, wie dieser aus dem Aufzug kam und Tante Gizella laut begrüßte, mit der Frau, die zu neunundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit Emőke Széles war, jedoch nur einen flüchtigen, gleichgültigen Blick
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