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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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als einen richtig tollen Mann vorstellen, Tomi. Er hat so eine Künstlerfrisur, Haare bis zu den Schultern, aber schneeweiß. Neben ihm Edit, seine Exfrau. Mit schwarzem Kopftuch. Und sie standen einfach nur so nebeneinander da. Sahen sich gar nicht an. Trotzdem konnte man spüren, dass etwas passieren würde. Und da zog die Frau plötzlich das Tuch vom Kopf und ihre Haare kamen zum Vorschein. Und stell dir vor, die waren genauso weiß wie die ihres Exmannes und genauso lang! Ihre Haare waren völlig gleich. Und Edit schüttelte den Kopf und ließ, wie eine Königin, den Blick über die Menge wandern. Du, in diesem Blick war ein ganzes Leben enthalten! Sogar mir jagte das einen kalten Schauer über den Rücken. Da sahen wirklich alle nur noch zu den beiden, und in dem Moment ergriff sie Iváns Hand. Sie stand da, mit geradem Rücken und stolz gerecktem Kopf.“
    „Es war erbärmlich“, sagte Gerda.
    „Für dich ist doch jeder erbärmlich“, erwiderte Erika. „Ich fand es schön. Es war wie eine Hochzeit. Jeder hat gesehen, dass die beiden füreinander geboren wurden.“
    „Außer dem Bräutigam“, sagte Gerda spöttisch. „Der Arme wusste gar nicht, wo er hingucken sollte. Diese Frau hing an ihm, dass einem schon vom Zugucken schlecht wurde.“
    Erika ließ sich nicht stören.
    „Sie sah aus wie eine Königin“, schwärmte sie. „Oder wie Edith Piaf. Man sah ihr an, dass sie nichts bereute. Dass sie zu ihrem Leben stand. Zu allem, was darin geschehen war.“
    „Dabei täte sie gut daran, sich ein paar Gedanken zu machen. Sie sieht nämlich grauenvoll aus. Graue Haare sollte eine Frau niemals offen tragen. Hast du Emmas Gesicht beobachtet? Sie war knallrot. Sie wäre wegen ihrer Mutter vor Scham fast versunken.“
    „Ach ja, Emma war nämlich auch da“, informierte mich Erika mit einem kleinen, nostalgischen Lächeln, was heißen sollte, sie erinnere sich noch gut, wie oft Gerda und sie mich mit Emma aufgezogen hatten, als wir noch Kinder gewesen waren, aber auch, wie schade es sei, dass wir keine Kinder mehr seien. „Sie ist eine tolle Frau geworden.“
    „Das freut mich“, sagte ich trocken, als hätte ich schon zahlreiche
Emmaolbachs
hinter mir.
    „Ich denke, Edit ist noch keine fünfzig“, sagte Gerda. „Aber mit diesen Haaren sieht sie wie sechzig aus.“
    „Etwas von einer alten Hexe hat sie schon“, gab Erika zu. „Mutter sagt, sie habe Tante Mara zu Tode gepflegt.“
    „Wie kommt Mutter darauf?“
    „Das erzählt man sich in Nyék. Jeder weiß, dass Tante Mara und Onkel Olbach seit dem Herbst bei Edit in der Tűzoltó Straße gewohnt haben. Sag mal, Tomi, hast du in der Bibliothek gar nichts von der Beerdigung gehört?“
    „Nein. Ich sitze den ganzen Tag nur im Lager“, sagte ich mürrisch, weil ich wusste, dass das als eine Anspielung auf meine Einsamkeit gedacht war. „Ich bin aber nicht einsam, falls du darauf anspielen willst.“
    Meine Schwestern wechselten einen raschen Blick. Erika hatte einen kleinen Plan, um mich aus meiner Einsamkeit zu reißen: Sie und Gerda wollten mich neu einkleiden. Dazu musste ich jedoch auch eingeweiht werden, aber meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Darauf bezog sich der Blick, den sie einander zuwarfen.
    „Tomi, du bist so bissig.“
    Innerlich war ich gerade dabei, einen Brief an die Frau im Zeitschriftenarchiv zu formulieren.
    Und am Morgen des nächsten Tages kaufte ich zu Versuchszwecken eine Nelke. Ich riss die Hälfte des Stängels ab, damit sie nicht aus meinem Mantel hervorguckte und irgendjemand (zum Beispiel Frau Mirák) auf die Idee kam, mich zu fragen, „Na, Tamás, für wen ist denn die Blume?“, die andere Hälfte ließ ich jedoch dran, damit die Frau aus dem Zeitschriftenarchiv (zum Beispiel Emma), sie nicht für Müll hielt. Die halbe Nelke platzierte ich am Mittag auf dem Zementboden des Lagers, dort, wohin sie immer zum Weinen ging, genau auf den Streifen, der von dem Neonlicht des Flurs beleuchtet werden würde, wenn sie (ob sie nun Emma war oder nicht) die Tür aus Angst vor dem Halbdunkel des Lagers einen Spalt geöffnet lassen würde.
    Die Versuchsblume verschwand vom Boden. Deshalb schrieb ich an diesem Abend bereits einen Brief an sie:
    Liebe Unbekannte
,
    ich weiß nicht, weshalb du so bitterlich weinst
, An dieser Stelle hätte ich das Papier beinah schon zerknüllt, da ich bereits zwei Fehler begangen hatte: Ich hatte eine Andeutung darüber gemacht, dass sie weinte, und wenn der Absender über das Weinen der

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