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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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herstellen. Und wenn sie keinen Zusammenhang fand, dann wollte sie das auch nicht. Dann würde ich nach einer halben Stunde Lektüre mit würdevollen Schritten ins Lager zurückgehen.
    Dann geschah jedoch, was ich befürchtet hatte: Die Nelke war dort, wohin ich sie getan hatte. Die Frau war nicht mehr ins Lager gekommen. Ich spürte, dass ich etwas falsch gemacht hatte. Ich hatte sie mit meinem Brief erschreckt. Nun traute sie sich nicht mehr herzukommen. Oder sie glaubte tatsächlich, dass ich sie umbringen wollte oder sie hatte den Brief schon in der gesamten Bibliothek herumgezeigt und nun amüsierten sich alle über mich.
    Nun, dann soll der Schwache eben untergehen, dachte ich. Unter „Untergehen“ verstand ich die Blamage, und unter „der Schwache“ verstand ich mich. Ich schöpfte aus dem Gedanken über die vollkommene Blamage Kraft, um mich an meinen Plan zu halten, und trotz allem ins Zeitschriftenarchiv zu gehen.
    Dort lernte ich Gábor kennen und erfuhr von ihm gleich, dass Emőke Széles Emőke Széles war. Nicht mehr und nicht weniger. Dass also nicht Emma Olbach im Lager um ihre Großmutter trauerte, sondern eine ganz andere Frau, aus einem ganz anderen Grund, weinte. Es gab also wirklich keine Zufälle.
    Von Gábor erfuhr ich außerdem noch die Details über die Todesumstände von John Torrington, ebenfalls gleich dort, im Zeitschriftenarchiv. Er zählte mir genussvoll die Symptome der Bleivergiftung auf, und ich hörte ihm mit regungsloser Miene zu, als hätte Gerda mir in den vergangenen Wochen nicht ständig etwas von Bleivergiftung erzählt. Und als würde mich das Foto nicht, aus eben diesem Grund, völlig verwirren.
    Selbst am Abend noch lief mir ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich daran dachte.
    Der Zug stand immer noch im Südbahnhof. Man verstand jedes Wort der anderen Fahrgäste. Diese warteten darauf, dass ihre Worte im Zuglärm untergingen, und regten sich zunächst nur über die Eisenbahngesellschaft auf. Auch ein leises Schnarchen war zu hören: In einer der Boxen schlief Móni aus dem Heim, eine von Mutters ehemaligen Schülerinnen. Sie atmete einen unsäglichen Zwiebelgeruch in den Innenraum des Zuges aus. Gábor schnüffelte mit einem anerkennenden Grinsen und flüsterte mir dann zu: „Siehst du, diese Frau versteht es zu leben.“ Ich offenbarte ihm natürlich nicht, dass das jene Móni aus dem Heim war, die alle zwei Monate türmte, sechzehn Jahre alt war, aber wie vierzehn aussah und für zwanzig Forint mit jedem mitging. Bei mir hatte sie es auch versucht, mir fehlte es jedoch an Geld, „Gut dann eben umsonst“, sagte sie, wozu es mir jedoch an Lust fehlte. Wir saßen ziemlich weit weg von ihr. In der Mitte. Am anderen Ende des Wagens saßen die anderen Fahrgäste, die sich weiterhin über die Eisenbahngesellschaft aufregten.
    Gábors Nörgelei hatte anderes zum Thema. Um zu demonstrieren, dass es auch für ihn keine Freude war, nach Nyék zu fahren, hatte er bereits auf dem Weg zum Bahnhof die ganze Zeit lang über den Ort hergezogen, was er nun im Zug fortsetzte. Er sagte, er liege zu weit weg, gleichzeitig aber auch nicht weit genug. Er sei keine Stadt, aber auch kein Dorf. Zudem lebe hier eine degenerierte Bevölkerung. Es gäbe weder Arbeiter noch Bauern. Und natürlich sagte er auch hässlichere Dinge. Alles, was er über Nyék wusste, ohne es einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Mit dieser Schimpftirade erreichte er etwas, das bisher weder dem Schicksal, noch der Grundschule von Nyék, noch dem György-Kilián-Gymnasium, ja, niemandem gelungen war: Er machte für kurze Zeit einen Nyéker Lokalpatrioten aus mir. Gábor sprach mit einer störrischen, man könnte fast sagen, dummen Gehässigkeit über Nyék, gab die billigsten Gemeinplätze von sich, die man in Budapest über Nyék zu hören bekam, und die wir Nyéker schon gar nicht mehr berichtigten. Zum Beispiel, dass jenseits von Nyék bereits Rhinozerosse weideten, denn dort beginne das Ende der Welt. Dabei stimmte das nicht annähernd: Einen größeren Katzensprung von Nyéks anderem Rand entfernt lag Pilótahalom, das viel kleiner als Nyék war, und von den Nyékern als das Ende der Welt bezeichnet wurde: Da lebten die Bauern. Aber genau deshalb verstand ich Gábor: Aha, er beschimpft die Bauern! Ein Junge aus der Provinz, der hauptstädtischer als die Hauptstädter sein wollte – deshalb machte er sich über Nyék lustig. Ich brachte nur den einen oder anderen vorsichtigen Einwand ein, sonst

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