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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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Adressatin Bescheid wusste, konnte es sich bei ihm nur um die Person handeln, die in dem Lager arbeitete, in das sie sich zum Weinen zurückzog. Da hätte ich den Brief ebenso gut unterschreiben können. Der andere Fehler war von stilistischer Natur: Duzen war nicht angebracht, wenn man schon einen lächerlichen Brief schrieb, der mit den Worten
Liebe Unbekannte
anfing, sollte man die Dame wenigstens siezen. Dann knüllte ich es doch nicht zusammen, weil ich dachte, wenn ich mich schon zum Clown machte, dann sollte es doch ein wirklicher Artist mit einer schön großen, roten Nase sein. Ich würde es nicht zerknüllen!
    aber ich will es auch gar nicht erfahren
.
    An diesem Punkt knüllte ich das Papier doch zusammen: Das war ja der totale Schwachsinn. Ich nahm ein neues Blatt.
    Liebe Unbekannte
,
    ich weiß nicht, weshalb Sie so bitterlich und untröstlich weinen, aber es ist gewiss ein großer Kummer, der Ihre See
    Auch dieses Blatt zerknüllte ich: Davon wurde einem ja übel.
    Liebe Unbekannte
,
    ich weiß nicht, weshalb Sie weinen, möchte es auch nicht wissen, da ich Sie nicht ausfragen will. Ich möchte Sie nur trösten, wenn möglich. Natürlich bin ich mir dessen bewusst, dass das mit Sicherheit nicht so einfach ist. Deshalb will ich Sie auch nicht belästigen. Ich möchte Ihnen nur mein Leben und mein Blut anbieten, was nicht besonders viel ist. Nur ein bisschen Leben und nur ein bisschen Blut
.
    Hier hätte ich das Blatt beinah wieder weggeworfen, wobei ich mit dem letzten Satz endlich zufrieden war, ich dachte nur, sie könnte mich wegen des Wortes
Blut
vielleicht falsch verstehen und befürchten, ich wolle sie umbringen. Dann dachte ich jedoch, so viel Empathie könnte ich von jemandem, dem ich mich auf diese Weise offenbarte, schon erwarten.
    Ich schicke Ihnen diese drei Gedichte als Trost, wenn Sie so etwas jedoch nicht mögen, scheuen Sie sich nicht, die paar Schritte bis zum Papierkorb zu tun und sie wegzuwerfen
.
    Ich wünsche Ihnen, dass Sie glücklich werden: T. K
.
    Ich steckte den Brief zusammen mit den drei Gedichten rasch in einen Umschlag. Eines der drei war das bereits zitierte Gedicht
Übermenschlicher Mensch
. Das zweite trug den Titel
Badezimmerpflanzen
.
    Leg dich in eine heiße Wanne
Atme still, zähl langsam bis zwanzig,
Bald schon wird dein Bad überwuchert
Vom Gewächs wilder Fliesen, ganz dicht
    Das Fenster öffnet sich spaltbreit
Herein strömt plötzlich ein schöner Wind
Einer, der wesentlich wärmer ist
Als dein Körper je war, Königskind
    Von draußen dringt diffuses Lachen
In deinen Anblick ganz versunken
Durchs Fenster Ischtar den Raum betritt
Nimm’s hin, du hast auch schon getrunken
    Dabei ist es draußen vielleicht kalt
Durch die Nacht streift der Eiswesen Schar
Du badest in der heißen Wanne
Du badest in vager Frostgefahr
    Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass auch dieses Gedicht vom
übermenschlichen Menschen
handelt – der selbstverständlich ein Mann ist –, aber damals dachte ich, notfalls könne es auch eine Frau auf sich beziehen (vor allem, wenn sie heimlich in Bücherlager ging, um dort zu weinen). Und jetzt hatten wir es mit einem Notfall zu tun: Dieses Gedicht war eines meiner beiden guten Gedichte, also musste ich es mit dazu nehmen.
    Es gab allerdings noch ein drittes, mit dem Titel
Ich träume
. Dieses war mir schon damals sehr peinlich. Ein drittes Gedicht war jedoch unbedingt notwendig, um den Eindruck eines weiten lyrischen Universums zu erwecken. Es war ein unsäglich schlechtes Gedicht, kein Wunder, dass von den dreien später genau dieses den größten Erfolg für sich verbuchen konnte.
    Am Morgen des nächsten Tages kaufte ich eine zweite Nelke, brach die Hälfte des Stiels ab, legte sie zusammen mit dem Umschlag an die übliche Stelle.
    Auf den Umschlag schrieb ich: „Liebe Adressatin“. Ich klebte ihn nicht zu, da ich befürchtete, die Adressatin würde sich andernfalls nicht trauen, ihn zu öffnen. Dann verließ ich das Lager. Ich hielt es für besser, mich in der kritischen halben Stunde nicht dort aufzuhalten.
    Die Blume und der Brief verschwanden.
    Und dann kam der dritte Tag. Mit der dritten Nelke. Mein Plan war, die übliche Blume hinzulegen und mich am Nachmittag ins Zeitschriftenarchiv zu setzen und eine Zeitschrift zu lesen. Ich würde mir einfach eine aus dem Freihandbereich nehmen. Sie würde sehen, dass jemand im Archiv saß, der sonst nicht dort saß und, wenn sie wollte, einen Zusammenhang zwischen mir, den Nelken und dem Brief

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