Liebe Unbekannte (German Edition)
sagte, war, dass ich nach Ansicht ihrer Kolleginnen ein hübscher Junge geworden sei. Was ich allein schon wegen meiner Brille nicht glaubte. Mutter hatte sich also schon seit Jahren Sorgen um mich gemacht, weil ich, mit Ausnahme von dem einen oder anderen eher harmlosen Fall, nie betrunken nach Hause gekommen war. Manchmal zog sie sogar die furchtbare Möglichkeit in Erwägung, dass ich kein vollständiges und freies Leben lebte. Als ich nun also meinen Saufkumpanen auf dem Rücken nach Hause brachte, und Gerda nur Gábors Seitentasche tragen ließ, fiel Mutter ein großer Stein vom Herzen.
„Ach, du lieber Gott, wer ist denn das?!“, flüsterte sie entsetzt, so wie es sich für eine Mutter gehörte, deren Sohn einen ausschweifenden Abend hinter sich hatte. „Das fehlte uns noch!“
Und sie tat sofort, was es zu tun gab. Während ich Gábor im Bad dabei behilflich war, sich zu übergeben, überzogen sie und Gerda blitzschnell mein Bett und machten auf dem Boden auch für mich einen Schlafplatz fertig. Dabei berichtete Gerda ihr mit gedämpfter Stimme über das wenige, was sie über den Hintergrund der Geschichte wusste. Über mein geheimes Notsignal schwieg sie (das hätte Mutter noch gefehlt!), allein schon deshalb, weil sie es überhaupt nicht ernst genommen hatte. Als sie im Zug an uns vorbeigegangen war, hatte sie die beiden Weinflaschen registriert und sich nur darüber Sorgen gemacht, dass vielleicht ich sehr betrunken sein könnte und nicht Gábor. Sie erzählte Mutter auch, dass wir Móni aus dem Heim beinah ebenfalls mit nach Hause gebracht hätten. Wir mussten sie aus dem Zug holen, dann gelang es uns jedoch, sie bei ihrem Großvater abzugeben, der zu Hause, und sogar halbwegs bei Sinnen war. Sie unterhielten sich leise, Gábor nahm jedoch keine Rücksicht auf die Schlafenden. Er erbrach sich äußerst geräuschvoll, weswegen Balázs erwachte. Erika beruhigte ihn schnell und steckte den Kopf auf den Flur hinaus. Sie dachte, ich würde mich übergeben. Sie freute sich ebenfalls über das Ereignis, da sie ein ähnliches Bild über die Jugendjahre eines Mannes hatte wie Mutter; sie kam auch gleich, um mich zu begrüßen und mir zu helfen. Aus dem Badezimmer taumelte jedoch Gábor heraus.
„Entschuldigung“, röchelte er. „Ich bin schon weg. Aber von wo eigentlich? Wo bin ich?“
Erika fasste in ihrer Antwort das zusammen, was in diesem Moment auch ich nicht bezweifelt hätte.
„An einem guten Ort.“
„Verdammt“, sagte Gábor erschrocken. „Das ist unmöglich.“
Dabei war unser Haus tatsächlich ein guter Ort. Es erlebte gerade seine zweite Blütezeit. Leben war wieder eingezogen. Gerda und Erika wohnten wieder bei uns, es gab auch schon ein Enkelkind, und Mutter konnte sich ein bisschen wie eine Hausherrin fühlen.
Damals wussten wir auch noch nicht, dass Vater Krebs hatte.
„Wo ist mein Freund?“
„Hinter dir“, antwortete Erika, wobei sie verständlicherweise missverstand, welche Rolle ich in Gábors Leben spielte.
Ich kam nach Gábor aus dem Bad und schob ihn in mein Zimmer. Ich bedeutete Erika, ihr später alles zu erklären. „Tut mir leid, das ist jetzt echt zu kompliziert. Und verzeih, dass wir euch geweckt haben.“ Erika schüttelte den Kopf.
„Dann ist es bereits morgen Abend“, schlussfolgerte Gábor aus dem, was Erika gesagt hatte. „Und das ist eine Katastrophe, aber nun ist es auch schon egal.“
Er warf sich, ohne die Stiefel auszuziehen, aufs Bett.
„Entschuldigung … Herr Pa…“, murmelte er. „Ich wollte es fast so …“
Mutter räumte noch im Zimmer herum.
„Gerda ist zu Vater gegangen“, flüsterte sie vorwurfsvoll. „Sie spricht mit ihm, damit er nicht herauskommt, er würde sich nur aufregen. Das Klo putze ich, kümmere du dich nur um deinen Freund, oder wer auch immer das ist.“
Ihren Stolz, dass ihr Sohn endlich einen Saufkumpan, ja, vielleicht sogar einen Freund hatte, kaschierte sie, außerordentlich geschickt, mit einem vorwurfsvollen Tonfall. Neben Gábors Kopf stand zur Sicherheit ein Aluminiumeimer. Auch ich war stolz auf meine Mutter, allein schon wegen des Eimers: Er zeugte davon, dass sie über Lebenserfahrung verfügte, was natürlich war, worüber ich jedoch bis zu dem Zeitpunkt nie nachgedacht hatte.
Wie ich später erfuhr, war im Grunde auch Vater mit den Ereignissen zufrieden, er verstand nur nicht, wie man von einer Flasche Wein pro Kopf so betrunken werden konnte. Vom Kirschschnaps erfuhr er nie.
Und ich war wie
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