Liebe Unbekannte (German Edition)
erzählt hast?“
„Was meinst du?“
„Na, was du zum Schluss …“
„Was habe ich gesagt?“
„Ist nicht so wichtig.“
„Habe ich irgendetwas ausgequatscht?“
„Nun ja …“
„Was habe ich gesagt?“
So etwas sollte man nicht aussprechen, aber ich tat es dennoch.
„Na … dass du … dass du denkst … dass dich niemand haben will.“
Ich bereute es sofort, denn es klang wie ein Urteil. Gábor errötete. Er antwortete nicht. Mit hängendem Kopf starrte er seine Stiefel an. Dann zog er sie aus und versuchte, die Reste seiner Socke gleichmäßig über den Fuß zu ziehen, da sich das einst bei den Zehen gebildete Loch mittlerweile bis zum Knöchel hinaufgezogen hatte.
Ich spürte, dass er von selbst nichts sagen würde. Mir fiel jedoch nichts ein. Zum Glück war es der Morgen des Nikolaustags. In meinem Schuh fand ich einen Schokoladennikolaus. Wahrscheinlich hatte ihn Mutter am Morgen hereingeschmuggelt. Oder Gerda. Die Schokolade kam Gábor gerade gelegen. Mit vollem Mund schämte er sich nicht so sehr.
„Das Telefon bräuchte ich, um Széles anzurufen. Vielleicht weiß sie ja etwas. Aber es ist sowieso schon egal. Entweder hat er sich umgebracht oder er wird nicht mit mir reden. Ich würde auch nicht mit mir reden.“
„Er hat sich nicht umgebracht“, sagte ich, da ich mich an Kornéls Stelle nicht umgebracht hätte.
„Doch. Sonst wäre er gestern Abend auf den Hof gekommen. Du kennst ihn nicht.“
Er hatte die Frage für sich geklärt, was ihm Schwung verlieh. Während er die Stiefel anzog, nahm seine Überzeugung allerdings schon wieder ab. Die Schnürsenkel band er bereits völlig ohne Überzeugung zu.
„Gehen wir die Sache logisch an“, sagte er mit ratloser Stimme.
Stille.
„Ach so, du meinst, ich soll die Sache logisch angehen? Dann hat er sich nicht umgebracht.“
Er zuckte mit den Schultern.
„Waren die auch für Széles gedacht?“
Die Nelke vom Vortag lag neben dem Stuhl. Sie war aus der Innentasche meines Jacketts gefallen. Ich nickte. Es hatte keinen Sinn, es zu leugnen.
„Ich bin trotzdem nicht in sie verliebt.“
„Egal“, sagte er. Kurz darauf gab er ein schwaches Anzeichen von Lebensfreude von sich. „Hat deine Schwester einen Freund?“
„Welche?“
„Egal. Ein Kind ist kein Hindernis.“
„Sie heißt Erika. Und hat genau ein Kind.“
„Was würdest du machen, wenn du deinen Freund verraten hättest?“, kehrte er nach kurzem Schweigen zum Hauptthema zurück.
„Du hast ihn nicht verraten.“
„Doch, doch“, sagte er mit düsterer Miene. „Würdest du ihm gegenübertreten?“
„Wie habt ihr euch verabschiedet? Was hat er als Letztes zu dir gesagt?“
„Was genau?“
„Ja.“
„Warte … Wortwörtlich hat er gesagt, alles sei beschissen, und auch ich solle mich zur Hölle scheren“, erwiderte Gábor, wobei in ihm wieder ein wenig Hoffnung aufzukeimen schien, ganz so, als hätte er mit diesen Worten den Schlüssel zur Lösung gefunden.
Aber mir fiel dazu nichts ein.
„Was ich noch ganz sicher weiß“, fügte er hinzu, „ist, dass er jeden Vormittag seine Eltern in der Psychiatrie besucht.“
„Und wenn er sie heute nicht besucht hat? Wegen dem, was passiert ist?“
„Das hat er, keine Angst! Es ist ausgeschlossen, dass er sie nicht besucht hat. Jemand anderes würde sie an seiner Stelle vielleicht nicht besuchen, er schon. Er macht ständig etwas, womit keiner rechnen würde.“
„Zum Beispiel liegt er stockbesoffen in der Eckkuppel“, sagte ich. „Wenn er über eine so komplizierte Seele verfügt, rechnet bei ihm sicherlich keiner damit.“
„Das ist kein dummer Gedanke“, sagte er verdutzt.
„Na, dann versuch, dich zusammenzureißen und geh zu ihm.“
In diesem Ratschlag war auch etwas Berechnung: Ich wollte dem zuvorkommen, dass Gábor seinen Freund aus Nyék anrief oder ihm etwas ausrichten ließ. Ich war mir sicher, dass Kornél nichts Schlimmes zugestoßen war: Er würde Gábor erzählen, dass alles in Ordnung sei, er ihm nicht grolle, dann würde er ihn fragen, von wo aus er sprach, und das Ende vom Lied wäre, dass in einer Stunde eine Meute halbbetrunkener Halbmenschen in unser Haus strömen würde. Mit Kornél an der Spitze. Und sie würden bis zum Abend hier bei uns weitersaufen. Nur bis zum Abend, weil dann ja der Ball in der Bibliothek sein würde. So stellte ich mir Kornél vor. Übrigens wäre ich liebend gern einmal der Gastgeber so einer fröhlichen Gesellschaft gewesen, nur wohnte ich ja nicht
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