Liebe Unbekannte (German Edition)
ausgewechselt. Ich schlief schnell ein.
Am Morgen wurde ich vom Geruch der Zigarette geweckt, die Gábor rauchte. Er saß auf dem Rand meines Bettes und starrte geistesabwesend in den Eimer.
„Ich habe mich gar nicht übergeben?“, fragte er hoffnungsvoll, was nicht heißen sollte, dass er sich über die Tragweite seines Benehmens vom vorhergehenden Abend nicht bewusst gewesen wäre. Ich erklärte ihm schnell die grundsätzlichen Dinge, nämlich, dass er bei uns war und dass bei uns, seitdem Vater es sich abgewöhnt hatte, niemand rauchte. Und dass hier ein kleines Kind wohnte. Er drückte die Zigarette im Eimer aus.
„Du bist verheiratet?“
Er war völlig verdutzt. Ich spürte, dass ihn meine Antwort interessierte. Darüber freute ich mich so sehr, dass meine Erklärung etwas ausführlicher ausfiel, als nötig gewesen wäre. Zunächst lachte ich verlegen und sagte, „Nein, Quatsch!“, dann informierte ich ihn kurz über meine Familie: Es handele sich um den Sohn meiner Schwester, Balázs, der um diese Zeit jedoch bereits in der Kinderkrippe sei, und seine Mutter, also Erika, und meine Mutter arbeiteten bereits. Mein Vater sei zu Hause, meine andere Schwester, Gerda wahrscheinlich ebenfalls. Es sei jedoch auch möglich, dass alle zu Hause seien, da ja jeder zweite Samstag im Monat arbeitsfreier Tag sei, und ich nicht genau wisse, welchen Samstag wir haben. Ich habe also überhaupt keine Ahnung, wie draußen die Lage sei, würde jedoch gleich nachschauen. Als ich mit meiner Antwort fertig war, hatte Gábor seine Frage bereits vergessen, dafür seine Gedanken geordnet, wodurch ihm klar wurde, dass er am Tag zuvor seinen besten Freund im Stich gelassen hatte.
„Ein Telefon habt ihr natürlich nicht“, stellte er fest, was auch bedeutete, dass er uns nicht zu der parasitären Schicht zählte, deren Angehörige über ein Telefon verfügten.
„Wie sollten wir eines haben?“, fragte ich fast schon empört. „In ganz Nyék gibt es insgesamt vier Telefonzellen, von denen mindestens zwei immer kaputt sind.“
„Wir sind also in Nyék. Ich habe es geahnt.“
Ich nickte.
„Demnach wohnst du in Nyék?“
Ich nickte.
„Und warum hast du das nicht gesagt?“
„Wollte ich.“
„Du hast dich gar nicht übergeben?“
„Nein.“
„Nicht so schlimm. Nichts ist verloren, nur die Ehre. Wie der gebildete… wer auch immer sagen würde: Es ist alles vorbei. Ich bin eine Null. Ein erbärmlicher Wurm. Aber das muss man auch einmal ausprobieren, oder?“
Er versuchte zu grinsen und rieb die Handflächen aneinander, als hätte er es tatsächlich kaum erwarten können, die Ehre zu verlieren, die Geste geriet ihm jedoch entsetzlich unbeholfen. Er war am Boden zerstört. Er hatte, nur weil er ihm gegenüber Minderwertigkeitskomplexe hatte, Kornél am schwierigsten Tag seines Lebens allein gelassen. Kornél, dem er alles zutraute. Er sah den zertrümmerten Körper am Fuß der Burgmauer vor sich. Er sah die Polizisten und er sah, wie der Krankenwagen, der überflüssigerweise gekommen war, wieder wegfuhr. Er sah den Leichenwagen, der an derselben Stelle parkte wie zuvor der Krankenwagen. Und er hörte das gleichgültige Krächzen der Raben, die ihre Kreise über dem Tabán zogen. Mit glasigem Blick starrte er vor sich hin. Er war ein echter Mörder. Und ich glaubte, ihn zu verstehen.
„Ich habe mich auch schon ein paar Mal übergeben“, sagte ich, um ihn ein wenig aufzubauen.
Er lächelte nachsichtig.
„Habt ihr einen Spaten?“
„Ja.“
„Und eine Schaufel?“
„Auch.“
„Würdest du mich begraben, wenn ich jetzt im Boden versinke?“
Wir schwiegen. Nun dämmerte es mir allmählich, dass er wohl ein größeres Problem hatte, als sich übergeben zu haben, und ich dachte, das sei die Situation, in der man etwas Tiefsinniges fragen müsse. Ich hatte in meinem Leben jedoch (abgesehen von ein oder zwei Ausnahmen) noch nie jemanden etwas Tiefsinniges gefragt. Mich mit Gerda zu unterhalten, weil sie sich völlig ruinieren würde, wenn sie so weitermachte, gehörte vorerst auch nur zu meinen Plänen, daher hatte ich lediglich eine ungefähre Ahnung davon, wie man jemanden etwas Tiefsinniges fragte. Eines war jedoch glasklar: Würde ich jetzt nichts Tiefsinniges fragen, würde ich es später bereuen. Ich überwand mich und fragte. Das war ein Fehler. Ich hätte ihn nur fragen müssen, warum er so niedergeschmettert war. Meine Frage geriet jedoch tiefsinniger.
„Ist es wegen der Sache, die du gestern Abend
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