Liebe Unbekannte (German Edition)
Schwesterherz“, sagte Emőke dankbar. „Auf jeden Fall wäre ich schon verrückt geworden, das ist sicher.“
„Ach, die hast du noch?“, fragte Emma, um vom Thema
Dankbarkeit
abzulenken, da sie von Gewissensbissen geplagt wurde.
Sie holte einen seltsamen Gegenstand aus dem Haufen hervor. Die Schlinge. An ihrem Ende war ein starker Aluminiumhaken. Trotzdem sah sie eher aus, als handle es sich um ein Schmuckstück. Oder doch nicht: Sie sah aus wie ein für den schnellen und bequemen Selbstmord geeignetes Instrument. Je länger man diesen Gegenstand betrachtete, desto praktischer und irritierender erschien er einem.
„Das wird konfisziert“, sagte Emma streng.
„Nein, ich brauche das. Ich vertilge eher eine ganze Apotheke als mir so ein Ding um den Hals zu binden.“
Emma glaubte ihr. Sie ließ Emőke Széles die Schlinge wegpacken und hob ihren Stift auf, der auf den Boden gefallen war.
„Egal was ist, du kannst mich heute Abend bei Mutter erreichen. Bis ungefähr um acht bin ich bei Großvater, denn jetzt muss immer jemand bei ihm sein und mit meiner Mutter und meinem Vater ist im Moment nichts anzufangen. Später kannst du mich unter der anderen Nummer erreichen.“
„Trinken sie immer noch Kaffee?“, fragte Emőke Széles überrascht.
„Ja, immer noch“, sagte Emma und seufzte.
„In der Küche?“
„Mhm.“
„Und sitzen die ganze Zeit auf den Hockern?“
„So ist es. Seit drei Tagen.“
Emma war im Grunde stolz, dass ihre Eltern seit drei Tagen Kaffee tranken und ihrem verkorksten Leben dadurch das schenkten, was ihm eigentlich gebührt hätte.
Abgesehen von kurzen Unterbrechungen saßen Edit Perbáli und Iván Olbach seit der Beerdigung von Emmas Großmutter in der Küche und tranken Kaffee. Das wurde zu einem legendären Kaffeetrinken. Nicht nur Emőke Széles erfuhr davon, sondern auch die Bibliothek.
Anlass des Kaffetrinkens war die Beerdigung, und das Thema war der Gedanke, dass sie sich vielleicht gar nicht hätten scheiden lassen sollen. Edit erinnerte ihren Exmann daran, dass sich vor ihnen früher Menschenmassen geöffnet hätten. Natürlich sagte sie nicht, sie sollten wieder heiraten. Denn so ist das Leben nicht. Iván hatte eine Frau im Malmö und diese Frau hatte Kinder.
Anfangs steckte sich Iván noch nach schwedischer Art Tabak unter die Oberlippe, aber bereits am ersten Tag des großen Kaffeetrinkens rauchte er wieder
Kossuth
ohne Filter. Edit meldete sich bei der Post, wo sie arbeitete, krank. Und sie tranken Kaffee. Ab und zu lüfteten sie.
„Wie süß! Und, werden sie wieder zusammenkommen?“
„Ausgeschlossen!“
„Wieso? Das gibt’s. Mein Russischlehrer hat dreimal dieselbe Frau geheiratet.“
„Meine Mutter hätte er bestimmt nicht geheiratet.“
„Schimpf nicht auf deine Mutter.“
„Ich schimpfe nicht.“
„Du hasst sie nur“, sagte Emőke Széles, denn sie respektierte Emmas Mutter sehr dafür, dass man sie richtig hassen durfte.
„Ich hasse sie nicht“, sagte Emma schnippisch. „Ich habe dir schon Millionen Mal gesagt, dass das kein Hass ist.“
„Wie oft, Schwesterherz?“, fragte Emőke Széles grinsend. „Also Millionen Mal ist wirklich übertrieben.“
„Lassen wir das“, sagte Emma, um den sich anbahnenden Streit abzuwürgen, und das nicht nur, weil Emőke Széles ja keine Ahnung hatte, sondern auch, weil sie zu halluzinieren begonnen hatte, als sie sich hinuntergebückt hatte, um den Stift aufzuheben. „Geh nach Hause und ruf mich heute Abend an.“
„Kommst du nicht mit?“
„Nein.“
„Was hast du?“
„Ein Déjà-vu. Oder werde gleich eins haben. Geh bitte, gut?“
„Aber grün bist du nicht.“
„Klar, davon wird man nicht grün. Nun geh schon und ruf mich heute Abend an, oder ich rufe dich an.“
„Aber was hast du?“, fragte Emőke noch einmal, bereits erschrocken. „Tut dir etwas weh?“
„Ich bin todmüde. Seit einer Woche habe ich kaum geschlafen. Das ist alles. Ich sehe zwei Bilder gleichzeitig.“
„Schielst du?“
„Nein, ich sehe zwei Bilder gleichzeitig! Ich bin an zwei Orten gleichzeitig.“
„Mein Gott.“
„Das geht vorbei. Ich kenne das.“
„Aber was soll ich mit dir machen?“
„Du sollst gar nichts machen. Geh schön nach Hause und leide.“
„Und du?“
„Ich bleibe hier. Aber du sollst losgehen!“
„Hattet ihr Epileptiker in der Familie?“
„Emőke, das ist eine Halluzination. Ein Erinnerungsanfall. Oder was auch immer. Ich weiß es nicht. Ich habe das manchmal.
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