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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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können, aber sie wollte dem jungen namenlosen Psychiater nicht schmeicheln, und genau das wäre es in dem Moment gewesen. Stattdessen sagte sie:
    „Wieso, was für eine Frau bin ich denn deiner Meinung nach?“
    „Eine ziemlich tolle“, sagte der junge namenlose Psychiater. „Du schminkst dich nur zu stark. Und du glaubst, du seist eine Königin.“
    „Das glaube ich nicht, ich weiß es“, erwiderte Emma und ausnahmsweise war es sogar das, was sie hatte sagen wollen, weil sie es glauben wollte. Denn man hatte sie verletzt.
    „Typisch“, sagte der junge namenlose Psychiater mit einem Grinsen.
    „Ja, weil du ja so untypisch bist!“
    Emőke Széles beobachtete aus der Deckung ihres Schirms zufrieden, wie sich die Liebe zwischen den beiden entfaltete. Zumindest glaubte sie, das zu beobachten. In Wirklichkeit beobachtete sie jedoch, wie Emma ins Garn ging. Wenn sie gewusst hätte, was sie in Wirklichkeit beobachtete, hätte sie nicht versucht, die beiden zu verkuppeln. Sie wusste es jedoch nicht. Sie spürte keine Gefahr. Sie dachte, Emma würde so ein dreister Kerl ganz guttun, er würde sie ohnehin bald langweilen. (Außerdem hatte sie in letzter Zeit die Beobachtung gemacht, dass zwischen Emma und Kornél eine gewisse Sympathie bestand, was ihr ein wenig Sorgen bereitete.) Auf den Gedanken, dass der junge namenlose Psychiater sich zu sehr in Emma verlieben könnte oder vielleicht gar nicht so dreist war, wie sie dachte, kam sie nicht.
    Es war nämlich allgemein bekannt, dass der junge namenlose Psychiater innerhalb weniger Jahre gelähmt sein würde. Er war nicht der Einzige in der Stadt mit diesem deprimierenden Krankheitsbild. Es gab noch viele andere gutaussehende Männer, die von ähnlichen Beschwerden geplagt wurden (Zeugungsunfähigkeit, drohende geistige Umnachtung, bald ausbrechende Schizophrenie usw.), aus denen sie auch keinen Hehl machten. Im Gegenteil, sie erzählten es jeder Frau. Mit ernstem Gesicht, nach ein wenig ostentativem Zögern. Sie hatten guten Grund dazu. Es war eine vorbeugende Maßnahme um zu verhindern, dass die Frauen auf die Idee kamen, sich an sie zu binden, gleichzeitig bekamen die Frauen Mitleid mit ihnen, was ihnen wiederum sehr gelegen kam. Das war auch die Masche des jungen namenlosen Psychiaters. Er erhoffte sich davon, dass die begehrtesten Frauen der Stadt bei ihm noch schnell an die Reihe kommen wollten, bevor das Schicksal ihn an den Rollstuhl fesseln würde. Emőke Széles machte bei Emma ruhigen Gewissens Werbung für den jungen namenlosen Psychiater: Ihn müsse man nicht so ernst nehmen, er verlasse sowieso jede, da er das Leben in vollen Zügen genießen wolle, bevor er gelähmt sein würde. Die Szene, in der sie lebten, bestehend aus ein- bis zweitausend (größtenteils jungen) Menschen, verbreitete die traurige Nachricht bereitwillig. Die Stadt war voller verworrener Fäden. Jeder kannte jeden irgendwoher.
    Die Freundschaft zwischen Emma und Emőke Széles ging zum Beispiel auf einen Fußgeruch zurück, den sie in ihrer Kindheit beide wahrgenommen, auf den sie jedoch auf unterschiedliche Art reagiert hatten. Emma wurde schlecht und Emőke konnte es sich nicht verkneifen, eine freche Bemerkung fallen zu lassen, für die sie vom Eigentümer des Fußgeruchs aus dessen Wohnung geworfen wurde. Sie waren Kommilitoninnen und lebten unter ähnlichen Verhältnissen (beide zu zweit mit der geschiedenen Mutter), trotzdem herrschte lange Zeit eine wechselseitige Antipathie zwischen ihnen, und sie freundeten sich erst am Ende des ersten Jahres auf einer wissenschaftlichen Studienreise an, wobei Emőke Széles’ Abneigung Emma gegenüber bereits erste Risse bekam, als diese eines schönen Tages gegen Ende des ersten Semesters mit einer Rokoko-Perücke und einem selbst genähten, relativ solidem Reifrock in der Vorlesung
Einführung in die Rechtswissenschaft
erschien. Sie bewunderte Emma für ihren Mut, dennoch blieb die Distanz zwischen ihnen bis zu dem Ausflug, bei dem, wie der Geschmack einer Madeleine aus vergangenen Zeiten, der Fußgeruch zur Sprache kam.
    Sie saßen in einem Holzhaus eines Campingplatzes in Sopron und wie immer hatte Emőke Széles das Wort. Sie erzählte die Geschichte, weshalb sie nicht Französisch gelernt hatte. Ihre Mutter hatte einen Französischlehrer für sie gefunden, in dessen Wohnung der Unterricht stattfand. Die Stunden begannen am späten Nachmittag. Der Lehrer kam stets gerade von der Schule nach Hause, wo er den ganzen Tag gestanden hatte,

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