Liebe Unbekannte (German Edition)
der junge namenlose Psychiater lachend.
„Na ja“, sagte Emma, denn es war keine leicht zu beantwortende Frage. Sie wusste natürlich, wie verrückte Ungarn waren. Sie hatte seit ihrer Kindheit viele verrückte Ungarn kennengelernt. Die meisten hasste sie. Sie tranken, suchten Streit, redeten Schwachsinn, schlugen ihre Mutter, sangen schleimige Lieder, waren übelgelaunte, komplexbeladene Kerle, von den verrückten Ungarinnen ganz zu schweigen, von denen es zwar weniger gab, dafür war eine von ihnen zehn verrückte ungarische Männer wert, die armen waren ganz furchtbare Hexen. Und da haben wir noch gar nicht von den in den Geschichtsbüchern wimmelnden verrückten Ungarn gesprochen! Aber wie sollte sie die Sache so zusammenfassen, dass sie die verrückten Ungarn nicht von ihrer schlechtesten Seite vorstellte und dem jungen namenlosen Psychiater dadurch von vornherein die Lust an ihnen nahm?
Emma hockte sich in den Sessel und umklammerte die Knie.
„Hast du das Buch meines Großvaters tatsächlich gelesen?“
„Ich schwöre, ich habe es gelesen.“
„Und worum geht es darin?“
„Ums kollektive Unbewusste.“
„Ich meine, geografisch.“
„Um Osteuropa?“
„Mitteleuropa“, stöhnte Emma, „aber egal.“
„Dann eben Mitteleuropa. Was ist die Frage?“
„Was hast du verstanden?“
„Was hätte ich denn verstehen sollen?“ „Dass es von einem verrückten Ungarn geschrieben wurde.“
Das war schön gesagt. Es hatte auch die entsprechende Wirkung auf den jungen namenlosen Psychiater. Er blickte reuevoll und sagte nichts mehr.
„Ady hast du auch nicht gelesen, oder?“, stellte Emma die rettende Frage, jedoch im Ton eines Menschen, der bereits auf alles gefasst war.
Denn Emma war auch in Endre Ady verliebt, nicht nur in den Autor der
Wunderbaren Weitschweifigkeit
, sogar hier und jetzt noch ein bisschen, in der Wohnung des jungen namenlosen Psychiaters, im Alter von über zwanzig Jahren.
„Doch“, antwortete der junge namenlose Psychiater grinsend. „Aber du musst zugeben, er war kein Attila József!“
Er spürte, dass er Emma damit erzürnen konnte. Das machte ihm Spaß, da er der Ansicht war, dass ihr der Zorn ausgesprochen gut stand.
„Weil du keine Ahnung von Gedichten hast!“, sagte sie. „Hör zu.“
Und sie rezitierte ihm
Der verirrte Reiter
. Zu Beginn war sie noch ein wenig angespannt, weil sie nackt im Sessel saß. Sie sprach zunächst leise, doch dann versank sie im Gedicht und vergaß alles andere. Sie stellte die Füße auf den Boden, richtete sich langsam auf, schloss die Augen, neigte den Kopf nach vorn und sagte das Gedicht, mit beiden Händen dem Rhythmus folgend, bis zum Schluss auf. Vielleicht sank sie auf dem Teppich sogar auf die Knie, sicher war, dass ihr bei
Lauter Wahnwitz, uraltes Klagen
die Augen bereits feucht waren.
Blindes Traben ist zu hören,
Ein Reiter in längst verirrtem Lauf,
In alten Wäldern, Schilf und Kraut,
Schreckt er gefesselte Seelen auf
.
Hier sieht man noch an manchem Ort
Dichtes Buschwerk in großen Flecken,
Jetzt werden Geister wieder wach
Aus Wintermärchen und Verstecken
.
Hier im Dickicht wuchern Sträucher,
Hier leben alte, dumpfe Lieder.
Die im stummen Nebel lauern,
Besingen traurig alte Krieger
.
Der Herbst bei uns ist voller Spuk,
Die Menschen flüchten und werden rar:
Im flachen Land, hügelumstellt,
Herrscht November, Nebel und Gefahr
.
Plötzlich wächst die nackte Puszta,
Dickicht durchwuchert ihre Weiten,
In Novembernebelschwaden
Versteckt sie sich im Dunst der Zeiten
.
Lauter Bluten, lauter Rätsel,
Lauter Gewalten, lauter Ahnen,
Lauter Wälder, Busch und Schilf,
Lauter Wahnwitz, uraltes Klagen
.
Und der sich einst verirrte hier,
Er bahnt sich den Weg und sucht nach Sicht,
Ohne Licht tappt er im Dunkel,
Und auch die Dörfer kennen ihn nicht
.
Stumm liegen die Häuser im Schlaf,
Träumen zitternd, was dort einst geschah,
Aus dem Dickicht aber strömen
Wölfe, Bären, Büffel ohne Zahl
.
Blindes Traben ist zu hören,
Ein Reiter in längst verirrtem Lauf,
In alten Wäldern, Schilf und Kraut
Schreckt er gefesselte Seelen auf
.
An diese Szene denke ich nicht gerne, die Objektivität verlangt es jedoch von mir. Emma behauptete lange, dass sie das Gedicht noch auf dem Bootssteg rezitiert hatte, eines Tages gestand sie mir jedoch, mit dem schuldbewussten Blick eines Welpen, der eine Ohrfeige erwartet, dass sie dabei neben dem Bett stand. Sie fügte aus Feingefühl nicht hinzu, dass sie nackt war, das zu erraten, war
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