Liebe Unbekannte (German Edition)
würde. Vater wartete auf diese neuen Entwicklungen und war deshalb im Grunde den gesamten Winter über sprungbereit. Deshalb blieb auch die Plane auf dem Haus. Es wäre sinnlos gewesen, das Haus fertig zu bauen, wenn man uns innerhalb einiger Monate sowieso enteignet hätte. Inzwischen war es jedoch schon Frühling und Onkel Jónás schwieg über die Sache seit einem halben Jahr wie ein Grab.
„Ach, das ist doch Quatsch!“, sagte Onkel Jónás. „Hier wird es in den nächsten zwanzig Jahren bestimmt kein Speicherkraftwerk geben. Mach dir keine Sorgen, István. Wenn es brenzlig wird, sage ich dir schon rechtzeitig Bescheid.“
Ich sah, wie Mutters Hand samt Kochlöffel erstarrte und sie erbleichte: Demnach hatten wir den gesamten Winter umsonst unter der Plane verbracht. Natürlich wusste ich auch, dass Mutter das jetzt nicht ansprechen würde, weil sie Vater und die ganze Familie nicht vor Onkel Jónás und Pali bloßstellen wollte. Wahrscheinlich würde es auch später keinen Streit darüber geben, da Mutter Vater fürchtete, er ihr zugleich aber auch leid tat. Und weil sie ihm blind vertraute. Vater war natürlich auch verdutzt, das sah ich ihm an. Aber er beherrschte sich.
„Na, Gott sei Dank, dann ist ja gut“, fuhr er in lockerem Ton fort. „Ich habe nur gefragt, weil wenn man doch etwas in der Art plante, käme es hier, auf der Serbenspitze, ganz bestimmt zu Aussiedlungen, und davor müssten wir das Haus verkaufen und zwar in Windeseile, solange sich noch ein unbedarfter Pechvogel finden ließe, der es kaufen würde.“
„Wieso, würde die Donau auch das Haus überfluten?“, fragte Mutter absichtlich überrascht, um Vaters Position zu stärken.
„Ach was, Irénke“, sagte Vater etwas barsch. „Sie würde es nicht überfluten, aber es würde schon reichen, dass sie bis zu unserem Garten kommt. Dann wäre das hier ja bereits der Uferstreifen. Die Häuser am Ufer könnten nicht stehen bleiben. Die würden abgerissen. Die Ufermauer müsste ja verstärkt werden. Stimmt’s, Jónás?“
„Ja, man müsste sie verstärken. Auf jeden Fall müsste man das! Aber du musst dir keine Sorgen machen, mein lieber István, in den nächsten zwanzig Jahren passiert hier garantiert nichts.“
Onkel Jónás sagte das jetzt so leicht daher, als hätte er sich im Oktober gar nicht zu dem Thema geäußert. Ich merkte, dass Vater mit seiner Eingangsfrage einen Fehler begangen hatte, da diese zuließ, dass Onkel Jónás jetzt so tat, als wüsste er gar nichts mehr davon, was er im Herbst behauptet hatte. Aber nun war es schon zu spät, Vater hätte ja jetzt schlecht sagen können: Mein lieber Jónás, im Herbst hast du aber noch etwas ganz anderes gesagt. Nicht, dass das besonders gefährlich gewesen wäre, denn Onkel Jónás war zwar Parteisekretär, aber wir waren gut genug mit ihm befreundet, um ihm so eine Frage zu stellen. Aber dass Onkel Jónás Parteisekretär war, hatte mit der ganzen Situation so gut wie gar nichts zu tun. Dennoch spürte sogar ich, dass Vater ihn jetzt nicht zur Rechenschaft ziehen konnte, nicht einmal scherzhaft. Damit hätte er vor Mutter und mir eingestanden, dass, nun ja, die Familie den Winter aufgrund einer Halbinformation einer alten, versoffenen roten Socke unter der Plane verbracht hatte. Dass er, István Krizsán, Onkel Jónás’ Geschwätz aus Unfähigkeit oder Faulheit ernst genommen hatte, dabei hatten Mutter, Erika und Gerda im Oktober noch einmal behutsam angedeutet, dass man das Dach noch decken könne. Darauf hatte Vater jedoch geantwortet, er werde vorher noch mit Jónás sprechen, und bald darauf hatte sich der Novemberfrost eingestellt.
Hätte er nun Onkel Jónás zur Rechenschaft gezogen, hätte er anerkannt, dass nicht der Novemberfrost zu zeitig gekommen war, sondern er etwas falsch gemacht hatte. Also konnte er ihm jetzt nicht vorwerfen, uns reingelegt zu haben. Leider verlangte sein Selbstwertgefühl von ihm, taktisch vorzugehen: Vielleicht gelang es ihm ja doch noch, Onkel Jónás etwas zu entlocken, was dem eben Gesagten widersprach. Das war eine hoffnungslose Angelegenheit, aber Vater blieb nichts anderes übrig, denn er war verzweifelt und konnte das nicht zeigen.
„Dann ist ja gut. Denn du weißt ja, wie es ist: Man macht sich so seine Gedanken. Plötzlich hört man überall von diesem Kraftwerk. Sogar auf
Freies Europa
spricht man davon.“
Die Erwähnung des Radiosenders begleitete er geschickt mit einer abwinkenden Geste, was das heikle Thema vollkommen
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