Liebe Unbekannte (German Edition)
Frauen gegenüber hegte. Dennoch endete das Ganze später in einer Scheidung. Die Authentizität der Geschichte konnte nunmehr ausschließlich der seit damals in Nyék lebende Onkel Jónás bezeugen, und natürlich die Armbanduhr, die schön mit Seife gewaschen und zum alten Dorfmann, der damals noch lebte, zur Reparatur gegeben wurde.
„Seine Tochter ist letztes Jahr in Rente gegangen. Sie hat in der Schule gearbeitet, ist eine Kollegin eurer Mutter gewesen.“
Das war Onkel Jónás’ Art, die Geschichte mit dem Heute zu verbinden.
Und nun konnte man Onkel Jónás danach fragen, was er bei der Sondersitzung der Parteimitglieder am letzten Mittwoch über das Wasserkraftwerk von Rácalmás gehört hatte. Vater wollte gerade ansetzen, holte tief Luft, doch in dem Moment nahm das Geschehen im Wohnzimmer eine neue Wendung: Mutter hatte es satt, dem Streit beizuwohnen und kam heraus, wodurch sie Erika Gerda nun völlig auslieferte. Sie lächelte die Gäste sogar an, was von ungeheurer psychischer Stärke zeugte, und fragte, nachdem sie schnell das Begießen über sich ergehen ließ, ob sie denn schon zu Abend gegessen hätten. Sie verneinten, Pali fügte jedoch gleich hinzu, dass er auch nichts mochte, denn wenn er einmal zu essen anfinge, würde für Tante Irénke nichts übrig bleiben. Mutter bat Pali, sie nicht
Tante
zu nennen, da sie beinah gleich alt seien, und holte dann die vom Gründonnerstag übrig gebliebenen Kartoffelnudeln aus dem Kühlschrank, um sie für Onkel Jónás warmzumachen. Gleichzeitig nutzte sie aus, dass dieser mit dem Rücken zu ihr saß, wodurch sie Vater bedeuten konnte, dass es der geeignete Zeitpunkt sei, sich nach dem Wasserkraftwerk zu erkundigen. Vater, der gerade vorgehabt hatte, das Thema anzuschneiden, ließ sich seine Gereiztheit nicht anmerken, warf Mutter lediglich einen strengen Blick zu, der den Gästen jedoch nicht weiter auffiel: Er bitte sie sehr, ihn nicht zu drängen.
„Sag mal, Jónás, was ist eigentlich mit dem Speicherkraftwerk von Rácalmás?“, fragte Vater. „Man hört ja haarsträubende Geschichten darüber. Dass alle, die unterhalb der Linie von unserer Terrasse wohnen, ausgesiedelt werden, dass das ganze Flachland ausgesiedelt werde, weil man die Donau bis hierher anstauen will. Sie soll bis zu unserer Terrasse gehen!“
Vater stellte ihm die Frage absichtlich so naiv, als hätte ihm nicht gerade Onkel Jónás von dem Speicherkraftwerk erzählt, und als würde er sich nur darauf beziehen, was aus der Nyéker Gerüchteküche bis zu ihm vorgedrungen war. Ich wusste, weshalb er diese Taktik gewählt hatte: Onkel Jónás sollte ruhig das erzählen, was jetzt im Frühjahr der offizielle Standpunkt war und nicht das verteidigen müssen, was er uns im Herbst erzählt hatte. Im Oktober war nämlich Folgendes passiert: Eines Abends erschien Onkel Jónás gewohnheitsgemäß bei uns und erzählte Vater im Vertrauen, dass alle Bewohner unserer Straße, der Panoráma Straße, innerhalb einiger Monate ausgesiedelt werden würden, da man in Rácalmás ein Wasserkraftwerk baue. Dass die Ufermauer durch unser Grundstück verlaufen würde. Dass man an jenem Tag im Rathaus eine Versammlung abgehalten habe, ein wichtiger Kerl vom Ministerium für Wasserwirtschaft aus Budapest gekommen und auch die gesamte Leitung des Volkseigenen Guts und die gesamte Parteiorganisation von Nyék dagewesen sei. Der Wasserwirtschaftsmann habe erzählt, dass der Bau des Wasserkraftwerks von Rácalmás inzwischen zu einer außenpolitischen Frage geworden sei. Die Regulierung der Donau müsse in Angriff genommen werden, bla, bla, bla, es sei eine Aufgabe des RGW. Und an dieser Stelle dämpfte Onkel Jónás die Stimme: Vater solle das für sich behalten, aber dies sei die Wahrheit. Dieser Teil von Nyék würde innerhalb weniger Monate geräumt werden, auch das ganze Flachland, die Bevölkerung würde man entschädigen, darüber müsse man sich keine Sorgen machen, und innerhalb eines Jahres würde man dort, wo jetzt noch unser Haus stehe, mit Planierraupen bereits Platz für die Ufermauer des künftigen Wasserkraftwerks von Rácalmás schaffen. Warum das Wasserkraftwerk gerade jetzt so wichtig geworden war, hatte der Mann aus dem Ministerium Onkel Jónás und den anderen natürlich nicht auf die Nase gebunden (oder Onkel Jónás stand unter Schweigepflicht), aber die Information an sich war offenbar sicher. Onkel Jónás versprach auch, sofort Bescheid zu sagen, wenn es neue Entwicklungen geben
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