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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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Vorträge darüber, die sich jedoch, ehrlich gesagt, nicht sonderlich für die Welt interessierte. Der Haushalt machte ihr genug zu schaffen, und sie musste auch arbeiten gehen. Wenn es denn überhaupt Arbeit gab, vor allem zur Zeit der Wirtschaftskrise, Anfang der dreißiger Jahre. Aber sie hörte Großvater stets geduldig zu, wenn er von der Welt sprach, und gab ihm sogar sehr nützliche, praktische Ratschläge, wenn dieser mal bei einem Gedankengang hängen blieb. Also dachten sie im Grunde doch zu zweit über die Welt nach. Sie hielten sie auch in Ordnung. Sie hinterließen ihren beiden Söhnen eine gepflegte, übersichtliche Welt, aber Onkel Lajos und Vater teilten sich das Erbe später lieber. Sie teilten die Welt unter sich in Natur und Gesellschaft auf, und das Thema der Träume fiel (zusammen mit den Naturwissenschaften) Vater zu. Onkel Lajos, der fünfzehn Jahre älter war, behielt die Gesellschaft für sich – Geschichte und Politik –, was Vater stets respektierte.
    „Und das ist noch nicht alles“, fuhr Vater fort. „Es ist bei uns sogar ein Familienthema. Vor drei Wochen haben wir alle fünf das Gleiche geträumt. Du weißt, ich befrage Irén immer nach ihren Träumen. Und sie hat davon geträumt.“
    „Wovon?“
    „Du weißt, was ich meine.“
    „Weiß ich nicht.“
    „Sei doch nicht so begriffsstutzig, Lajos. Du hast gerade gesagt, dass es kein Telefonthema ist. Also in der Nacht habe auch ich davon geträumt. Dann haben wir die Kinder gefragt, und alle drei waren in der Nacht in ihren Träumen am Kai gewesen. Wir haben alle fünf vom Kai geträumt. In derselben Nacht!“
    In diesen späten Stunden konnte man für einen Forint lange telefonieren. Vater hätte natürlich auch vom Pförtnerhäuschen aus telefonieren können, sogar kostenlos, aber er befürchtete, dass die Gespräche, die im Pförtnerhäuschen der Konservenfabrik geführt wurden, auch andere hörten. Dass Onkel Lajos’ Telefon abgehört wurde, glaubte er nicht. Onkel Lajos selbst glaubte es noch viele Jahre lang nicht, dabei machte er häufig diesbezüglich Bemerkungen.

5.
EIN SCHLOSS AUF DEM FLACHLAND
    „Wie wir wissen, gab es drei Versuche, das Irrenhaus Europa zu vereinen. Für den ersten war ein genialer Nervenarzt aus Korsika zuständig, für den zweiten ein größenwahnsinniger Patient mit Zweifingerbart und neuerdings haben die Verrückten ihr Schicksal gemeinsam in die Hand genommen und die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl gegründet. Na, Mädchen, erzählen Sie uns doch darüber etwas.“
    Der selbstgefällige junge Dozent, der Mutter bei der mündlichen Prüfung diese Aufgabe stellte, wollte sie nicht in Verlegenheit bringen. Und schon gar nicht ihr Leben ruinieren. Ihm war nach den vielen Prüfungen einfach nur langweilig geworden und vielleicht gefiel ihm Mutter sogar ein bisschen. Er wollte ihr nur helfen, ein wenig die Anspannung zu lösen. Deshalb nannte er sie Mädchen, womit Mutter jedoch nicht gerechnet hatte. Sie war auf alles gefasst, auf Kollegin, Kameradin, Genossin, auf ein Du oder auch ein Sie, nur eben nicht auf Mädchen und die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Sie wusste alles über griechische Demokratie, feudale Anarchie, über die Geschichte der Arbeiterbewegung von den Florentiner Tuchmachern bis zur Komintern, kannte den Geschichtsstoff aller vier Jahre des Gymnasiums auswendig und hatte eine schöne schriftliche Prüfung hingelegt. Aber mit aktuellen wirtschaftspolitischen Fragen und so einem lockeren Budapester Kerl hatte sie nicht gerechnet. Eine Tageszeitung hatte sie noch nie in der Hand gehabt. Sie sprang auf und rannte mit glühenden Wangen aus dem Raum. Der Dozent konnte sie nicht einmal auf dem Gang einholen, auch im Treppenhaus nicht, dabei suchte er sie sogar dort und auf der Straße, dann gab er die Suche langsam auf und später hätte er sie gar nicht fortsetzen können, da er noch im Herbst desselben Jahres mit zweihunderttausend anderen Menschen das Land verließ. Und Mutter wurde Logopädin. Dabei wäre sie gerne Professorin an einer Universität geworden, am liebsten Mittelalterhistorikerin und insgeheim Königin. Sie war ein hochmütiges Mädchen. Das war auch der Grund, weshalb sie später Vater heiratete, der sich um die entscheidenden Fragen der Welt Gedanken machte, und weshalb sie mir, wie Gerda berichtete, beim Stillen „mein kleines Christkind“ zuflüsterte. Mittlerweile hatte sie viel von ihrem Hochmut verloren, ihr hätte es im Grunde

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