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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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schon gereicht, wenn wir ein richtiges Dach überm Kopf gehabt hätten, aber einen geheimen Faden hielt sie immer noch in der Hand. Dieser Faden führte zu Dr. Endre Olbach, zu Onkel Olbach, dem ewigen Leiter der Staatlichen Korvin Bibliothek, dem Chefredakteur der (im Umfang von sechzig Bänden geplanten) Ungarischen Großenzyklopädie, dem Kossuth-Preisträger, dem europaweit bekannten, vergessenen, wiederentdeckten und schließlich doch vergessenen Essayisten, dem Autor, späteren Verleugner und schließlich Überarbeiter von der
Aufstieg des Morgenlandes
. Onkel Olbach wohnte nicht weit von uns, unten im Flachland. Mutter sah in ihm die Sicherheit dafür, dass Erika, Gerda und ich an der Universität angenommen werden würden. Und von ihrem königlichen Hochmut ist so viel übrig geblieben, dass sie in Onkel Olbachs Enkelin Emma, die (ihrer Ansicht nach) zu einer Prinzessin erzogen worden war, meine zukünftige Frau sah. Das bedeutete freilich nur, dass Mutter selten, mit einem verschmitzten Lächeln, diese Möglichkeit in Erwägung zog, ich errötete, Gerda und Erika mich auslachten, mich ein paar Tage lang mit Emma aufzogen, und dann wieder Monate vergingen. Insgesamt sieben Jahre. Seitdem wir uns kennengelernt hatten.
    Mutter hatte für Onkel Olbach und seine Frau als Ostergeschenk eine schöne kalte Platte zusammengestellt. Sie hatte sie früh am Morgen gemacht, weil Vater es nicht gern sah, dass sie zur Familie Olbach Kontakt pflegte. Er argwöhnte, dass Mutter Geld von Tante Mara, Onkel Olbachs Frau, annahm, fragte sie aber nie danach. Er wusste natürlich auch, dass Mutter lieber gestorben wäre, als sich Geld zu leihen, wenn man ihr jedoch welches anbot, neigte sie dazu, es anzunehmen.
    Nachdem Vater zur Arbeit gegangen war, war es an der Zeit, die Osterplatte an ihren Bestimmungsort zu bringen. Das war kein einfaches Unterfangen, da Onkel Jónás immer noch nicht gegangen war und sich jetzt sogar noch eine Pfeife anzündete. Gleichzeitig nickte er ein. Und da Mutter ihm vier Tage alte Kartoffelnudeln zum Abendessen angeboten hatte, wollte sie nun nicht, dass er erfuhr, dass sie Onkel Olbach eine kalte Platte schickte. Sie stand hinter dem schlafenden Onkel Jónás und gab Gerda in Zeichensprache die Anweisung, sie solle die Osterplatte aus dem Holzschuppen holen, wo sie sie vor Vater versteckt hatte, und zu Onkel Olbach bringen. Gerda hatte nicht die geringste Lust dazu. Sie tat so, als wüsste sie nicht, was Mutter von ihr wollte und gab ihr das ebenfalls in Zeichensprache zu verstehen.
    „Onkel Olbach“, waren die Wörter, die Mutter mit dem Mund formte und: „Die Osterplatte.“
    Gerda las es Mutter von den Lippen und war so garstig, sie dann laut zu fragen:
    „Was will Onkel Olbach?“
    „Pst“, sagte Mutter und deutete auf Onkel Jónás.
    „Er schläft“, erwiderte Gerda, nun auch tonlos. „Sollen wir sie jetzt hinbringen? Um diese Uhrzeit?“
    „Er ist die ganze Woche zu Hause“, antwortete Mutter sanft. „Sie werden sich darüber freuen. Dann müssen sie wenigstens morgen nicht kochen.“
    „Wieso, häutet er sich schon wieder?“, fragte Gerda mit Unlust, aber (in Hinblick auf Onkel Jónás’ Anwesenheit) kodiert.
    „Ich bitte dich, Gerda“, wies Mutter sie wegen des respektlosen Ausdrucks zurecht, aber ein kleines Lächeln konnte sie nicht unterdrücken. „Er arbeitet zu Hause.“
    „Mein Gott, worum man sich alles kümmern muss“, sagte Gerda. „Nun gut. Komm, Tamás.“
    „Was häutet sich?“, fragte Onkel Jónás, der bei Wörtern, die mit Tieren in Verbindung standen, immer hellhörig wurde. Und da er dachte, Mutter und Gerda unterhielten sich über ein Tier, wollte er sofort seine fachmännische Hilfe anbieten. Aber es war kein Tier, das sich häutete, sondern Endre Olbach. Er selbst nannte diese Wochen, in denen er in Nyék war, zu Hause arbeitete und nicht in die Bibliothek ging, die des Häutens. Darin lag etwas Selbstspott, als wäre er eine Riesenschlange – die alte Kaa –, die sich ab und zu zurückzog, um sich zu häuten und dann stets mit einer Haut zurückzukehren, die die vorherige an Schönheit übertraf. Diese Reptilienlebensweise bewährte sich, denn Onkel Olbach war mit seinen über siebzig Jahren immer noch der Generaldirektor der Korvin Bibliothek. Und gleichzeitig der Leiter des im zukünftigen Gebäude der Korvin Bibliothek untergebrachten Instituts für Herausgabe von Enzyklopädien.
    „Was häutet sich, Gerda?“
    „Ist egal, Onkel Jónás“,

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