Liebe Unbekannte (German Edition)
ich mitkommen?“
„Komm, mach keinen Mist, du bist unser Fahnenträger. Sei ein Mann“, fuhr mich Gerda an und sie hatte recht. Ich, mit meiner Parfümflasche, war jetzt der Mann. Der Vorwand für den Besuch bei den Olbachs, die für Mutter das Ancien Régime repräsentierten, für mich Emma und für Gerda irgendetwas, das ich mir damals noch gar nicht vorstellen konnte. Natürlich kannte ich Gerdas Wertvorstellungen zum Teil. Aber von dem Chaos, das in ihr herrschte, hatte ich keine Ahnung.
„Wohin hast du den Kater getan?“
„Er wird schon in seinem Karton klarkommen.“
Wir gingen zu dritt weiter.
Sie waren entschlossen, kampflustig. Sie glaubten an die kollektive Zukunft. Onkel Olbach wollte der Marx und Tante Mara der Engels des 20. Jahrhunderts werden. Sie wollten gemeinsam eine auf geistesgeschichtliche Grundlage basierende Weltwirtschaftsgeschichte schreiben. Sie wollten die Welt von Nyék aus aus den Angeln heben, was gar kein so verwegener Plan war: Einerseits, weil sie jung, klug und e ntschlossen waren, andererseits, weil die Welt ohnehin im Begriff war, aus den Angeln zu geraten, nur musste sie von jemandem angestupst werden, damit sie krachend herausfiel. Dass dieser jemand schließlich Hitler wurde, dafür gibt es tausend Gründe, aber Onkel Olbach und Tante Mara schulde ich auf jeden Fall folgende Feststellung: Sie wussten, was kommen würde und obgleich sie an die Güte des Menschen glaubten, ja, sogar an Nächstenliebe, wollten sie gerade aus dem Grund kein Kind, weil sie sich darüber im Klaren waren, dass dieses sein Leben in einer Hölle würde verbringen müssen.
Allerdings ging der spartanische Lebensplan nicht auf.
Noch vor dem Umzug überdachten sie alles und machten den praktischen Aspekten des Lebens einige Zugeständnisse. Ein Bett und ein oder zwei Kleiderschränke brauchte man ja doch. Also kamen ein schönes Bett mit Metallgestell, acht schlichte Stühle, schnörkellose Schränke, Bücherregale, Tische und ein Dienstmädchen ins Haus.
Ein Dienstbotenzimmer hatten sie bei der Planung des Hauses aus Prinzip nicht in Erwägung gezogen, deshalb schlief das Mädchen, das sie zur Führung des Haushalts eingestellt hatten, in der ersten Zeit in der Küche. Sie hieß Otília und war die Patentochter einer Gräfin aus dem Komitat Vas, was sie mit großem Stolz erfüllte. Bald jedoch kündigte Otília an, ein Kind von Onkel Olbach zu erwarten. Onkel Olbach bestritt die Vaterschaft zwar sein ganzes Leben lang, war aber dennoch gezwungen, Otília ein Haus bauen zu lassen, die daraufhin den Erstbesten (den wirklichen Vater) heiratete und ihm das Kind gebar. Damals wusste im Flachland bereits jeder, dass man wegen des Grundwassers hier keinen Keller bauen konnte. Also wurde das neue Haus mit einem erhobenen Erdgeschoss errichtet und – Otílias schlechtem Geschmack entsprechend – mit einem Spitzdach nach deutscher Art überdacht.
Das hässliche Haus von Otília und ihrem Mann besiegte innerhalb weniger Monate das moderne mit dem Flachdach. Es überragte das andere, erdrückte es. In seiner ohnmächtigen Wut machte Onkel Olbach jeden Monat ein Foto von allen Etappen des Hausbaus. Auf den Fotografien war, wie er sagte, der
Prozess, wie der moderne Mensch vom biologischen Menschen besiegt wird
, gut zu beobachten. Später verschwanden beide Häuser zwischen den mittlerweile großen Obstbäumen, wodurch der Anblick nicht mehr so niederschmetternd war.
Als dann langsam immer mehr Menschen aufs Flachland zogen, begann auch die Gerüchteküche zu brodeln. Die ständig ankommenden neuen Einwohner betrachteten das flache moderne und das hässliche Haus daneben als ein einziges Gebäude: als ein Herrschaftszentrum oder ein Schloss. Man munkelte, der Eigentümer des Schlosses habe zwei Frauen, weil seine erste Frau unfruchtbar sei. Tante Mara lachte nur, als sie aus einem anonymen Brief davon erfuhr. „Endre, mein Lieber, man hält dich hier für einen alttestamentarischen Patriarchen oder was“, rief sie und gebar einen Jungen. Die eine der beiden Schreibmaschinen verstummte und auch die andere klapperte nicht mehr fröhlich: Onkel Olbach hämmerte gereizt darauf herum. Das Kind weinte und Mara Olbach, die Fürsprecherin der Körperkultur und des freien Tanzes, der weibliche Engels, wurde die Ehefrau Nummer eins eines Patriarchen. Und später die Bibliothekarin von Nyék.
Sie bekamen drei Jungen. Die beiden Älteren verließen das Land nach der Revolution 1956, der Jüngste, Iván, im
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