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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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Luftlinie wohnten wir nur einige hundert Meter voneinander entfernt, und selbst über die Straßen war es nicht einmal ein Kilometer. Dennoch gab es diese Linie. Und es gibt sie noch heute. Im Militärwesen wird die Linie, die bis zu dem unsichtbaren Punkt geht, bis zu dem man eine Armee ökonomisch und in Hoffnung auf einen Sieg bewegen kann, Aktionsradius genannt. Unser Aktionsradius überschnitt sich nicht mit dem der Olbachs, die als Bewohner des Flachlands andere Wege gingen als wir. Vom Flachland ging man zu einem anderen Bus, nicht zu dem unseren. Arbeit fanden die Flachländer auch eher in diese Richtung: im Fleischverarbeitungsbetrieb und im Heizkraftwerk. Von unserer Gegend, also der Serbenspitze aus, ging man schon eher in die versteckten Waffenfabriken der Budaer Berge arbeiten, in die Vereinte Ersatzteilfabrik und die Bergbaumaschinenwerke.
    Später, als allmählich Autos in Nyék Einzug hielten, waren auch diese Wege unterschiedlich, denn jeder nahm den Weg, der in seine Richtung am kürzesten war. Wenn die Flachländer, die ein Auto besaßen, in Budapest zu tun hatten, fuhren sie nicht in unsere, sondern in die andere Richtung los. Das Beachten dieser wenigen Meter, dieser zehn Sekunden, dieser paar Tropfen Benzin wurde zum integralen Bestandteil der lokalen Gepflogenheiten. Es wurde zum ungeschriebenen Gesetz, dass ein vernünftiger Mensch vom Flachland (dem offiziellen Namen nach Unter-Nyék) niemals über Ober-Nyék nach Budapest fuhr, sondern in die andere Richtung, da das kürzer war. Zumindest, wenn er etwas zu tun hatte. Spazieren gehen oder Umherschlendern war natürlich etwas anderes. Edit Perbáli oder dann später Emma kamen jedoch nie zum Spazieren nach Nyék, sondern um die Großeltern zu besuchen. Sie verhielten sich wie echte Flachländer und kamen mit dem Flachlandbus. Als sie irgendwann ein Auto hatten, richteten sie sich weiterhin nach den Gewohnheiten der Nyéker Bevölkerung. Sogar Emma, die sonst gerne gegen den Strom schwamm, benahm sich beim Autofahren wie eine waschechte Flachlandautofahrerin.
    Im Sommer 1931 stand dann mitten im Flachland eine kleine, wunderschöne Villa mit Flachdach, rundherum war noch nichts. Nur die Weite und Schafe, im Westen die Serbenspitze, im Osten der Uferwald der Donau.
    Hier begannen die beiden jungfräulichen Kinder der reinen Modernität, Onkel Olbach und Tante Mara, ihre Ehe. Die Entwürfe für das Haus hatten sie zu zweit gezeichnet und auch ihr Lebensplan war ein gemeinsamer: hinaus aus der Stadt in die reine Natur, zwischen reine Formen, um sich hier der reinen Wissenschaft zu widmen. Während der Woche Arbeit in der Bibliothek, dabei Lesen, Notizen machen, am Abend und am Wochenende das Hämmern zweier Schreibmaschinen im Haus in Nyék. Einmal im Monat Besuch der Freunde in Budapest, gemeinsame Ausflüge, Baden in der Donau, am Abend hitzige philosophische Streitgespräche. Möbel wollten sie kaum und Kinder überhaupt keine. Aus Prinzip. Sie hatten im Leben anderes zu tun. Zwei Schreibtische, zwei Matratzen auf dem Boden, Maras Pianino und ein bisschen Küchenausrüstung. Das sollte alles sein. Zu Hause bräuchten sie nicht einmal Bücher, ihnen stand ja die gesamte Korvin Bibliothek zur Verfügung.
    „Was es nicht alles gibt“, sagte Gerda und tat ganz verwundert. „Da ist ja Mutter.“
    „Sie kommt auch mit?“, fragte ich verdutzt. Dabei war mir inzwischen klar geworden, dass sie auf Mutter gewartet hatte, was auch unser gemächliches Tempo erklärte. Damit Mutter Zeit hatte, sich einen anderen Pullover anzuziehen und sich die Haare zu frisieren. Sie rannte fast zu uns. Sie hatte sich vollkommen umgezogen. Und sah sehr hübsch aus.
    „Ich dachte mir, wenn Onkel Jónás schon gegangen ist, kann ich ja auch … Oder meinst du nicht?“, fragte sie mich. „So gehört es sich schließlich, nicht? Dass ich auch mitkomme. Die Olbachs halten sich doch noch ans Etikett. Lass mich mal an der Platte riechen. Schließlich war sie den ganzen Tag im Holzschuppen. Nicht, dass sie am Ende noch verdorben ist …“
    Mutter nahm die Alufolie von der Osterplatte und beschnupperte sie.
    „Habt ihr gar nicht daran gerochen?“
    „Nein. Wir sind Fatalisten“, erwiderte Gerda grinsend. „Stimmt’s, Tamás?“
    Ich kannte das Wort nicht, sah aber sehr wohl, dass Gerda Mutter wieder angriff. Ich beugte mich über die Osterplatte, um an ihr zu riechen.
    „Sie riecht gut, Mutter.“
    „Dann sollten wir uns beeilen, es ist so schon spät.“
    „Muss

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