Liebe Unbekannte (German Edition)
Sommer 1969. Er war Emmas Vater. Etwas vereinfacht könnte man sagen, Emma erkrankte daran, dass er wegging.
Das Flachland wurde schließlich innerhalb weniger Jahre mit wackligen Gebäuden zugebaut, allesamt mit Spitzdach, die an Olbachs Dienstbotenhaus erinnerten. Und so entwickelte es sich allmählich zu einem hässlichen, hinterwäldlerischen Ort. Mit anderen Worten, er war bereit für den Zweiten Weltkrieg, der ihn verschonte. Und er verschonte ihn nicht nur, vielmehr wurde in den Nachkriegsjahren auch klar, dass das Flachland seine Glanzzeit in den Vorkriegsjahren gehabt hatte, denn nach dem Krieg kam es zu einem langsamen, bis heute andauernden Verfall. Aber was auch immer geschah, das Herz des Flachlands blieb stets die Villa mit dem Flachdach und dem hässlichen Haus daneben, und zu diesem alten Herzen waren Gerda, Mutter und ich nun mit unserer Osterplatte auf dem Weg.
Vor dem alten Herzen stand ein kleines Auto. Ein Fiat 850. Ich bekam einen Kloß im Hals: Emma und ihre Mutter? Mit Auto?
„Sieh mal einer an“, sagte Gerda und ich hörte, dass auch ihr Herz einen Satz tat. Einen so gewaltigen, dass ich es gar nicht ansprach, dabei hätte ich große Lust dazu gehabt. Denn Gerda war ein wenig in Emmas Vater verliebt, genauer gesagt in die ihn umgebende Legende. In der Nyéker Schule hatte sich ein kleines Legendarium um Iván Olbach gebildet. Auf der Marmortafel der Schüler mit durchwegs ausgezeichneten Zeugnissen stand sein Name an erster Stelle. Die älteren Lehrer sprachen oft von ihm, sie sagten, er sei das klügste Kind der Schule gewesen. Er habe Sport getrieben, gezeichnet, sei Maler geworden. Er habe die Fahne der ungarischen Delegierten bei den Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Helsinki getragen, aber das sei nicht ganz sicher. Der Arme habe jedoch ein Ungeheuer geheiratet, obgleich man zugeben müsse, dass sie das schönste Paar gewesen seien, das jemals den Boden von Nyék berührt habe, abgesehen von dem einen oder anderen Schauspielerehepaar, das auf dem Weg zum Balaton vor der landesweit bekannten Mandel-Konditorei angehalten habe, um ein Eis zu essen und einige Autogramme zu verteilen. Seine Frau habe ihn so weit gebracht, das Land zu verlassen, raunte man. Jedes Jahr kam in Nyék das Gerücht auf, Iván würde seiner alten Heimat nun endlich mal einen Besuch abstatten. Gerda beschäftigte die Frage, ob sie in der Lage gewesen wäre, so einen Mann zu halten.
Aber natürlich waren nicht Emma und ihre Mutter zu Besuch bei den Olbachs. Es waren Ervin Gál und seine Frau, die die Olbachs damals mindestens zweimal wöchentlich besuchten. Ervin Gál war allem Anschein nach Onkel Olbachs Speichellecker, was nicht hieß, dass Ervin Gál Onkel Olbach nicht tatsächlich bewunderte. In der Korvin Bibliothek wussten das viele und behaupteten daher, er liefere dem Innenministerium gar keine Berichte über Onkel Olbach, sondern respektiere den alten Herrn einfach nur. Allerdings hätte er wohl auch nichts dagegen, wenn dieser nun endlich in Rente ginge oder sich zumindest von der Spitze der Redaktion der Ungarischen Großenzyklopädie verabschiedete. Auch jetzt, bevor wir ankamen, hatten sie sich darüber unterhalten. Ervin Gál und seine Frau sprachen, einander ins Wort fallend, über das Abrunden des Lebenswerks: Dies sei der geeignete Zeitpunkt, sich noch einmal dem großen Opus, dem
Aufstieg des Morgenlandes
, zu widmen. Gott sei Dank wehe jetzt auch in der Kulturpolitik ein anderer Wind, und das hieße, die Chancen für das Erscheinen des zweiten Bandes stünden sehr gut und was den dritten Band betreffe … „Den, nun ja, Onkel Bandi, den müsstest du endlich schreiben. Du wirst auch nicht jünger, wobei du dich blendend hältst. Du bräuchtest einfach mehr Freizeit.“
An dieser Stelle klingelten wir. Onkel Olbach empfing uns freundlich, Tante Mara rügte mich noch freundlicher, indem sie sagte, sie habe schon geglaubt, ich würde sie dieses Jahr überhaupt nicht mehr begießen, und sie lasse meinem Vater ausrichten, sie werde ihm seine Abwesenheit nie verzeihen. Sie bot uns Kuchen an, den Otília gebacken hatte und stellte uns als allererstes natürlich Ervin Gál und seiner Frau vor. Wir kannten Ervin Gál aus dem Fernsehen und wussten aus dem Nyéker Gemunkel, dass er Onkel Olbach häufig besuchte. Ihn hier anzutreffen, schüchterte uns dennoch ein. Eine Berühmtheit. Wie am Nachmittag bei Onkel Lajos musste ich wieder an die
Große Geschichte
denken. Einen berühmten Menschen
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