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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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nehme alles zu schwer. Der Blick dieser Leute war nicht außergewöhnlich, sie schauten nur, weil sie lebten, weil sie den Krieg überlebt hatten, den der Vater seiner Frau nicht überlebt hatte. Edits Vater starb als einfacher Major einen einfachen Tod, ganz einfach an der Front, seine Tochter lernte ihn gar nicht kennen. Die Töchter anderer Majore machten bestimmt nicht so viel Aufhebens um den Heldentod ihres Vaters, dachte Iván Olbach zynisch.
    Was Patai über den Leiter der Korvin Bibliothek gesagt hatte, war übrigens nicht unbegründet. Zu diesem Zeitpunkt schien der große Tag bereits nah, an dem die Korvin Bibliothek an ihren neuen Standort, in die Budaer Burg, umziehen würde. Der Umbau der Burg hatte lange gedauert, sehr lange. Es war sogar in Erwägung gezogen worden, dass das IHE ein eigenes Gebäude auf dem Szent-György-Platz bekommen sollte. Im Laufe der Zeit hatte es viele Pläne gegeben. Eines wusste Emma jedoch von klein auf ganz genau, nämlich, dass ihr Großvater irgendwann in die Burg ziehen würde. Deshalb hatte sie lange gedacht, dass ihr Großvater in seiner Jugend der letzte ungarische König gewesen sei, und man die Burg für ihn umbaue. Patai traf mit seiner Geschichte genau in diese Vorstellungen. Gewollt oder ungewollt.
    Die Korvin Bibliothek würden wir heute allerdings vergebens in der Burg suchen. Die wahrscheinlichste aller Erklärungen für ihr Verschwinden ist, dass sie eine Sondersammlung der Széchenyi Landesbibliothek geworden ist. Eines ist sicher: Heute befindet sich letztere Einrichtung zwischen den Mauern des königlichen Palastes.

7.
EMMAS DARSTELLERLISTE
    Liebe Irénke, lieber István, liebe Kinder,
    nun haben wir uns also hier in Bonyhád eingerichtet. Der Umzug ist reibungslos verlaufen, nur Mutter hat eine leichte Erkältung bekommen. Aber ich habe sie auskuriert. Beim Umzug ist nicht einmal ein Glas Kompott kaputtgegangen. Und nun nehme ich den Stift in die Hand, um Euch zu schreiben, denn was man verspricht

    Allem voran: Ich habe mich hier ein wenig informiert. Und ich habe wundervolle Nachrichten für Euch! Aber das Gute schreibe ich lieber zuletzt, lasst uns das Unangenehme schnell hinter uns bringen … Denn leider gibt es da eine dumme Angelegenheit, über die ich Euch berichten muss. Seitdem ich Schwachkopf es ihr erzählt habe, leidet Mutter unsäglich darunter. Aber mir macht es auch ganz schön zu schaffen. Ich habe sogar davon geträumt
.
    Zunächst möchte ich Euch bitten, diesen Brief auf keinen Fall den Kin

    Mutter verschluckte das Ende des Wortes
Kinder
, aber Erika und Gerda konnte sie nicht täuschen. Sie entlarvten Mutter sofort, die versuchte, uns vorzuspielen, der Brief sei von dieser Stelle an völlig uninteressant: tralalalala … ach, nichts Besonderes, hier István, lies ihn, wenn du magst. Sie gab den Brief Vater, der ihn, statt sich in dessen Inhalt zu vertiefen, zerstreut betrachtete. „Was soll ich eigentlich damit machen?“, sagte sein Gesichtsausdruck. Währenddessen geriet Mutter ins Kreuzfeuer.
    „Und warum sollst du ihn auf keinen Fall den Kin…?“, fragte die elfjährige Gerda streng.
    „Es ist wirklich nichts Besonderes“, sagte Mutter. „Esst lieber. Es wird kalt.“
    Sie hatte schon bereut, einfach so, ohne Bedenken angefangen zu haben, den Brief vorzulesen. Aber wer hätte schon die Nerven, einen Brief, der einem am Sonntag beim Mittagessen von einem Krankenwagenfahrer übergeben wird, nicht augenblicklich zu öffnen?
    „Dieser Brief ist auch an uns adressiert, nicht nur an euch“, sagte Gerda. „Liebe Irénke, lieber István, liebe Kinder – und das sind wir. Sogar Tomi wird damit angesprochen. Tomi, bitte sie auch, ihn uns zu zeigen.“
    Ich bat sie. Mutter schüttelte entschlossen den Kopf und warf Vater einen drängenden Blick zu, damit er die Diskussion unterband. Erika versuchte, sie zu erpressen.
    „Mutter, komm, sei doch nicht so. Wenn du nicht weiterliest, werden wir dich
Muttchen
nennen.“
    Dann baten wir sie im Chor: Lies-ihn-vor, lies-ihnvor.
    „Das wird Vater entscheiden, wenn er ihn zu Ende gelesen hat.“
    Aber Vater las den Brief nicht. Er zuckte mit den Schultern und gab ihr den Brief zurück.
    „Meinetwegen kannst du ihn vorlesen.“
    Mutter verlor den festen Boden der Prinzipien unter den Füßen. Sie verstand nicht, weshalb Vater sie im Stich ließ. Weshalb übernahm er nicht die Verantwortung?
    „Aber die Stampfkartoffeln sind jetzt schon kalt“, sagte sie. Sollte sie ihn nun

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