Liebe Unbekannte (German Edition)
Wald verschwunden.
„Entschuldigung“, stammelte Patai. „Verzeih mir.“
Patai stammelte sonst nie, aber davon ließ sich Onkel Olbach jetzt nicht beeindrucken.
„Schert euch weg! Schert euch endlich weg!“, brüllte er und Patai sowie der unschuldige Ervin Gál flüchteten vor ihm ans andere Ende des Bahnsteigs. Als der kleine, rote Zug einfuhr, stieg Ervin Gál in den offenen Wagen, und Onkel Olbach mit Emma in den geschlossenen.
Patai stieg nicht ein, er verschwand im Wald. Er hatte beschlossen, zu Fuß nach Hause zu gehen. Quer durch den Wald. Er und seine Frau wohnten auf dem Szabadság-Berg, in einem Mehrfamilienhaus in der Nesz Straße 30. Vielleicht dachte er ja, es würde Emma beruhigen, wenn sie ihm aus der Eisenbahn hinterherblickte und sah, dass er sich traute, in den dunklen Wald zu gehen. Sollte er tatsächlich damit gerechnet haben, dann hatte er sich gründlich getäuscht, denn der Anblick, wie er in den Wald lief, war alles andere als beruhigend. Emma ließ die Sache dann tatsächlich keine Ruhe, weshalb sie ihm – natürlich nicht jetzt, sondern mehr als zehn Jahre später – hinterherlief.
Tief in seinem Inneren freute sich Onkel Olbach darüber, dass Patai auch in der Lage war, Mist zu bauen. Das hatte sich nun herausgestellt. So viel Gutes hatte zumindest auch dieser gottverdammte Tag an sich gehabt, wenn es auch alles war. Ervin Gál blickte erschrocken aus dem anderen Wagen zu ihnen hinüber. Bei der Station Hárs-Berg tat er Onkel Olbach dann so leid, dass er ihm bedeutete, sich ihnen anzuschließen. Zu dritt fuhren sie zur Endhaltestelle Hűvösvölgy.
Die Familie Olbach war Ervin Gál etwas schuldig: Iván hatte dem Armen einige Jahre zuvor eine Tür gegen die Nase geknallt, wonach sein Hemd von Blut nur so triefte. Es war ein Unfall. Ervin Gál hatte nichts getan, er himmelte Iván und Edit nur an, und jedes Mal, wenn er die beiden erblickte, fühlte er sich wie ein Staubkorn. Einmal sagte er Edit sogar, dass sie und Iván wunderschön seien, sie seien das ideale Menschenpaar. Nachdem Iván ihm die Nase zertrümmert hatte, zog Ervin Gál bald aus der gemeinsamen Untermiete aus, dabei hatte Iván ihm wirklich nichts antun wollen, er war nur zu schnell aus dem Zimmer gekommen, so dass Ervin Gál, der vorm Schlüsselloch kniete, keine Zeit mehr hatte aufzustehen. Nach diesem Vorfall nahmen Onkel Olbach und Tante Mara Ervin Gál unter ihre Fittiche.
Der Waldspaziergang hatte viele Konsequenzen.
Edit konnte ihrem Schwiegervater nie verzeihen, dass er sich so benommen hatte. Und ihrer Schwiegermutter nicht, dass sie nicht dabei gewesen war. Und im Grunde auch Emma nicht, dass sie sich Patais Geschichte bis zum Schluss angehört hatte, anstatt das Ruder in die Hand zu nehmen und so den Verlauf der Ereignisse irgendwie zu verändern. Am meisten konnte sie sich jedoch selbst nicht verzeihen, dass sie es fertig gebracht hatte, ohne ihre Tochter ins Ausland zu fahren. Edit Perbáli konnte überhaupt niemandem etwas verzeihen. Selbst der Adria konnte sie den Sonnenschein nicht verzeihen, den berühmten Sonnenschein von 1969, der nicht der Gleiche war wie in allen anderen Jahren.
Denn in diesem Sommer schien die Sonne anders. Es lohnt sich, die Urlaubsfotos von 1969 hervorzuholen, auf jedem wird man diesen seltsamen Sonnenschein sehen. Und wenn vielleicht doch nicht der Sonnenschein anders war, dann waren es die Menschen, die anders blickten, so dass ihre Gesichter das Sonnenlicht anders reflektierten. Der Gesichtsausdruck des wiedergewonnenen Selbstbewusstseins war in diesem Sommer europaweit auf den Gesichtern zu beobachten. Das war der Sommer, in dem die Generation, die Europa in den Ruin getrieben und dann wieder aufgebaut hatte, sich das letzte Mal in ihrer ganzen Kraft zeigte. Und jetzt ruhte sie sich am mediterranen Meeresstrand aus. Sie badete und ließ sich im Sonnenlicht fotografieren. Starke, gesunde Männer und Frauen zwischen vierzig und fünfzig, logischerweise hauptsächlich aus Deutschland. Edit Perbáli lief mit Iván Olbach am Strand entlang und maß sie mit düsterem Blick.
„Fahren wir nach Hause“, bat sie ihn. „Siehst du, wie sie gucken?“
Iván sah, wie sie guckten. Aber jetzt wollte er nicht mehr nach Hause fahren. Bis dahin war es Edit gewesen, die Ungarn verlassen wollte, damit aus ihm ein großer Maler werden könne, und nun, da sie so weit gekommen waren, wollte er es zumindest versuchen.
„Siehst du, wie sie gucken?“
Iván Olbach dachte, Edit
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