Liebe Unbekannte (German Edition)
Welt und wohin er kommt, sucht und forscht er nach dem Buch. Und es ist gar nicht ausgeschlossen, dass er auf seiner Suche gerade durch diesen Wald zieht. Er tastet sich hier durchs Dunkel. Hier sucht und sucht er. Hier, hinter uns, zwischen den Bäumen.“
Mit einer gleichgültigen Handbewegung deutete Patai in die hinter ihnen rauschende Dunkelheit. Emma zuckte zusammen.
„Und wo genau ist hier das gute Ende?“, fragte Ervin Gál.
„Bin ich etwa schon fertig, Genosse Gál?“, erwiderte Patai streng. „Also Pryzk sucht seitdem das Buch, in das man ihn geschrieben hat. Zuerst versteckt er sich im Hirsch, dann in einem Mädchen, das einen Eimer Wasser trägt, dann in einem Kutscher und so weiter. Er zieht durch die Welt und sucht nach dem Buch, um es zu vernichten. Aber was ist in der Zwischenzeit mit dem Buch geschehen?“
„Hat es jemand gelesen?“, fragte Emma.
„So ist es. Und auch nicht irgendwer, sondern der junge König Matthias, als man ihn in der Stadt Prag gefangen hielt, und er noch gar kein König war. Er las es und es gefiel ihm nicht. Es gefiel ihm überhaupt nicht. Die Wahrheit ist, dass das ein außerordentlich böses Buch war. Der junge König Matthias hätte es am liebsten zerrissen, dabei war er kein ängstlicher Bursche, und das wäre auch sehr klug von ihm gewesen. Aber er dachte sich, Bücher zerreißt man nicht. Was denkst du, was der junge König Matthias mit dem Buch gemacht hat?“
„Er gab es seinem Papa zurück“, sagte Emma unsicher.
„Sein Papa konnte nicht lesen. Der junge König Matthias dachte bei sich, mir hat das Buch zwar nicht gefallen, aber vielleicht gefällt es ja anderen. Und er beschloss, falls er, obgleich die Chancen für ihn in dem Moment ziemlich schlecht standen, auf dem Hauptplatz von Prag wider Erwarten doch nicht seinen Kopf verlieren, sondern stattdessen eines Tages König werden sollte, zu Hause, in seiner Burg in Buda, für dieses Buch eine Bibliothek zu gründen. Und das tat er dann auch. Seitdem wird dieses Buch in der Korvin Bibliothek behütet. Und zwar von Bibliothekaren, von vielen, vielen Bibliothekaren, ein Bibliothekar behütet es mehr als der andere, aber am allermeisten wird es vom Oberbibliothekar behütet. Weißt du denn, wer heutzutage dieses furchtbare Buch am allermeisten behütet?“
Emma schüttelte den Kopf. Patai deutete auf Onkel Olbach.
„Dein Großvater.“
Emma überlegte kurz, dann fing sie fürchterlich zu weinen an.
„Dann sucht Pryzk ja dich!“, sagte sie zu ihrem Großvater.
„Patai“, sagte Onkel Olbach friedlich, aber drohend. Er streichelte Emmas Kopf.
Patai erhob ruhig den Finger.
„Geduld, Geduld, das gute Ende kommt ja erst noch. Vielleicht hat Pryzk schon gefunden, was er gesucht hat.“
„Großvater?“, rief Emma. „Das ist kein gutes Ende.“
„Gut, dann erzähle ich das Ende nicht“, erwiderte Patai mit einem Schulterzucken.
„Jetzt musst du es schon erzählen, Patai“, sagte Onkel Olbach wütend.
„Soll ich, Emma?“, fragte Patai.
„Ja!“
„Pryzk zog also durch die Welt, schlüpfte mal in dieses Tier, mal in jenen Menschen. In verschiedenen Gestalten streifte er durch die Welt. Und das macht er bis heute, stets in der Gestalt eines anderen Lebewesens. Na, was denkst du, Emma, in wessen Gestalt zieht dieser Pryzk jetzt umher? In wen ist er zuletzt geschlüpft?“
Patai blickte vielsagend zu Ervin Gál. Dieser stand einige Schritte von ihnen entfernt und rauchte, immer noch verschnupft, weil Patai ihn mit „Genosse Gál“ angeredet hatte.
„In ihn?“, fragte Emma.
„Nein, nein“, sagte Patai kopfschüttelnd. „Nein … In dich, Emma!“
„Du blödes Schwein!“, rief Onkel Olbach und sprang mit Emma im Arm auf. „Du sadistischer, perverser Idiot! Wie kann man einem Kind so etwas …?!“
Zuerst spielte Patai noch den Empörten.
„Entschuldige bitte, mein lieber Bandi, aber du hast dir die Geschichte doch auch bis zum Schluss angehört, nicht? Wieso sagst du erst jetzt etwas? Emma, das war doch gar kein so schlimmes Ende oder?“
Emma, die immer noch auf dem Arm ihres Großvaters saß, hatte Patai bis jetzt mit einem steifen Blick angesehen, bei dieser Frage heulte sie jedoch jämmerlich los, mit einem so unwahrscheinlichen Sirenenton, den eigentlich nur Säuglinge hervorbringen können. Es war eher ein Ausschrei, unterbrochen von gelegentlichen Schluchzern. Gleichmäßig und unerträglich. Der Teufel sprang sofort aus Patai, machte drei lange Schritte und war im
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