Liebe Unbekannte (German Edition)
schaffte.
Mutter kam gar nicht mehr aus dem Entschuldigen heraus.
„Habe ich etwas Falsches gesagt? Ach, Mara, stimmt’s, ich habe etwas Falsches gesagt? Hätte ich nicht über diese … diese Person sprechen sollen?“
„Ervin ist unglaublich dick geworden. Er ist nicht einmal in der Lage, seine Bewegungen zu koordinieren.“
„Dabei wollten wir gar nicht stören … es tut mir so furchtbar leid … kommt, Kinder, wir gehen auch los.“
„Ihr stört überhaupt nicht“, sagte Tante Mara und fügte etwas leiser hinzu: „Diese Frau ruiniert ihn. Er hat Talent, aber wie wir wissen, hat das bei einem Künstler noch lange nichts zu bedeuten. Wenn es im moralischen Bereich hapert, ist alles für die Katz.“
Wir hörten, wie vor dem Haus der Fiat 850 losfuhr. Ich wäre gerne unsichtbar geworden und Gerda dachte, wenn Ervin Gál aus der Toilette kommen, und Mutter jetzt anfangen würde, sich auch noch bei ihm zu entschuldigen, würde sie losschreien. Aber sie schrie nicht los, dabei tauchte Ervin Gál wieder auf, und Mutter entschuldigte sich bei ihm.
„Verzeihen Sie, Ervin, ich darf Sie doch Ervin nennen, wobei es ist so seltsam, Sie in echt zu sehen und nicht im Fernsehen, ich hoffe, es waren nicht wir, die Anlass zu dieser kleinen Meinungsverschiedenheit gegeben haben …“
„Ach was, um die Mimi müssen wir uns nicht kümmern, Tante Mara“, sagte Ervin Gál, wobei er durch Mutter hindurchblickte. „Das ist nur die Monatshysterie, verzeihen Sie mir den Ausdruck.“
Tante Mara nahm das Wort
Prolet
nicht gerne in den Mund, allein schon, weil ihr das der Anstand verbot, außerdem war von früher noch so viel Engels in ihr übrig geblieben, dass sie den am Todestag des großen Dichters Attila József (3. Dezember 1937) geborenen Arbeitersohn aus Csepel, Ervin Gál, diesen engagierten, surrealistischen Dichter aus dem Volk, im Namen der sogenannten sozialistischen Moral nicht gnadenlos zusammenstauchte, dabei hätte sie große Lust dazu gehabt.
„Wie Sie meinen, Ervin“, sagte sie zu Mutter, ohne Ervin Gál anzusehen. „Irénke, euch bitte ich, euch wieder hinzusetzen.“
Das „euch“ sagte sie mit starker Betonung. Damit schickte sie Ervin Gál nach Hause. Natürlich verstand Mutter das und nahm zögerlich wieder Platz. Gerda und ich folgten ihrem Beispiel. Ervin Gál stand nervös herum.
„Soll ich hinterhergehen?“
„Dafür ist es leider zu spät, Ervin.“
Onkel Olbach kam zurück.
„Das hast du wunderbar hinbekommen, mein lieber Ervin“, sagte er düster. „Daraus kann sogar noch eine Scheidung werden.“
Später bekräftigten Gerda und ich uns gegenseitig, es richtig gesehen zu haben: Onkel Olbach zwinkerte Mutter zu, wodurch diese noch mehr erschrak. Sie wurde beinah leichenblass.
„Scheidung? Mein Gott, ich wollte doch nur … Habe ich etwa den Anstoß zum Thema
Scheidung
gegeben? Das wollte ich nicht.“
„Irénke, das hat mit Ihnen überhaupt nichts zu tun. Beruhigen Sie sich bitte.“
Onkel Olbach holte Ervin Gáls Trenchcoat und drückte ihn seinem Besitzer in die Hand.
„Der letzte Bus nach Budapest fährt um vierundvierzig. Den erreichst du gerade noch. Ich habe das Tor offen gelassen. Versuch dich irgendwie mit ihr auszusöhnen. Die Haltestelle findest du doch auch allein, oder?“
Ervin Gál nickte. Dann rannte er hinaus. Es stellte sich eine kurze Stille ein. Tante Mara bot uns Kuchen an, und Onkel Olbach schüttelte mit einem leisen Lächeln den Kopf, zog den Vorhang ein wenig beiseite, um zu beobachten, ob Ervin Gál es schaffte hinauszugelangen. Als er sah, dass er draußen war, war er beruhigt. Er atmete geräuschvoll aus und stellte die Farbfotografie auf den Fernseher zurück: Emma und ihre Mutter waren darauf zu sehen. Gerda warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu: Siehst du es auch?
„Er hat Talent, aber wie wir wissen, hat das bei einem Künstler noch lange nichts zu bedeuten“, sagte er. „Wenn es im moralischen Bereich hapert, ist alles für die Katz.“
Das sagte er zu Mutter, die in ihrer tiefen Verlegenheit ganz einfach und schön die Schultern zuckte, als wollte sie sagen: „Ich weiß ja nicht, sicherlich haben Sie recht …“
Onkel Olbach setzte sich wieder.
„Nun reden wir nicht um den heißen Brei herum, Irénke. Sie wollten etwas sagen.“
„Ich?“, sagte Mutter vor Schreck ein bisschen scheinheilig.
„Den ganzen Abend schon wollten Sie etwas ansprechen. Worum geht’s?“, fragte Onkel Olbach sanft und klar, was nichts daran
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