Liebe Unbekannte (German Edition)
dazu, sie „im Auge zu behalten“?
„Das stimmt zwar, aber was, wenn sie wirklich durchgedreht sind“, sagte Vater, „und dieses arme Mädchen fürs Leben zerstören? Hat er sie wirklich von der Schule abgemeldet?“
„Das hat er“, sagte Mutter.
Wir wohnten zwar erst seit wenigen Wochen in Nyék, aber vom Lehrerkollegium erfuhr Mutter so manches. Über die Olbachs sowieso. Wenn ein ganz gewöhnlicher Mensch sein Kind am Samstag in der Schule an- und am Dienstag wieder abmeldet, sorgt das im Lehrerzimmer auch schon für Gesprächsstoff. Aber Onkel Olbach war kein gewöhnlicher Mensch, sondern der berühmteste Bewohner Nyéks. (Wenn auch ein wenig in Vergessenheit geraten.)
„Einmal wurde er schon festgesetzt, aber dann rehabilitiert“, dachte Vater laut nach. „Danach bekam er schnell den Kossuth-Preis verpasst. Nach alldem wird man ihn nicht einfach so, ohne Grund, angreifen. Wenn er wirklich durchgeknallt ist, kann er mit dem Mädchen machen, was er will.“
„Soll ich der Frau vom Kinderschutz Bescheid sagen?“, fragte Mutter.
„Um Gottes Willen! Das fehlte noch, dass wir sie anzeigen.“
Das sah auch Mutter ein, obwohl die Frau vom Kinderschutz außergewöhnlich sympathisch war.
„Von Morvai mal ganz zu schweigen“, fuhr Vater fort. „Wenn wir hier etwas in die Wege leiten, kann das für ihn böse ausgehen.“
„Für Morvai?“
„Ja. Er kann sich so schon umgucken, wenn irgendein Idiot von Nachbar auf die Idee kommt, ihn anzuzeigen.“
Morvai war der Zahnarzt.
Sie wussten nicht, was sie machen sollten. Sie dachten sogar darüber nach, dass sie Emma am Ende zu sich nehmen würden müssen.
„Vielleicht sind sie Juden“, sagte Vater. „Dem Aussehen nach wäre das schon möglich. Und dann wäre es nicht ausgeschlossen, dass sie keine lebenden Verwandten hat. Niemanden. Wenn die beiden, gehen wir mal vom Schlimmsten aus, in die Klapse gesteckt würden, käme Emma ins Heim.“
„Angeblich sind sie evangelisch“, sagte Mutter. „Das behauptet zumindest Frau Kalmár.“
„Vielleicht sind sie ja konvertiert.“
„Aber gerade zum evangelischen Glauben?“
„Ja. Wieso nicht? Weißt du, wie viele während des Krieges konvertierten? Ist Frau Kalmár nur so auf das Thema
Glauben
gekommen, oder habt ihr euch über etwas Ähnliches unterhalten?“
„Hm, weiß ich gar nicht“, sagte Mutter. „Jetzt, wo du es sagst, ist das schon komisch.“
„Ach so. Sie prüfen dich“, sagte Vater. „Pass auf, was du Frau Kalmár gegenüber sagst.“
„Du weißt, dass ich aufpasse. Du wolltest etwas sagen.“
„Habe ich vergessen. Wegen der Kalmár.“
„Dass sie Juden sind.“
„Ich habe nur gesagt, dass es nicht ausgeschlossen ist.“
„Du meinst also“, half ihm Mutter, „dass wir Emma adoptieren müssten?“
„Genau, das war’s“, sagte Vater. „Wie wir es drehen und wenden, der alte Herr kam mit ihr schließlich zu uns. Er gab sie in unsere Obhut.“
„Das war Zufall.“
„So einen Zufall gibt es nicht.“
Für Mutter war es selbstverständlich, dass Vater wusste, welche Art Zufälle es gab und welche nicht. Sie nickte. Gegebenenfalls würden sie Emma also zu sich nehmen.
„Zunächst handelt es sich dabei ohnehin nur um eine theoretische Frage“, sagte Vater. „Wir können darüber reden, wenn wir mehr wissen.“
Gerda hatte sie belauscht und brachte uns nun die Nachrichten ins Kinderzimmer.
„Sie unterhalten sich schon wieder über deine Verlobte“, flüsterte sie mir auf allen vieren vor meinem Bett zu und kroch dann in ihr eigenes zurück. „Vielleicht zieht sie zu uns.“
„Sie ist gar nicht meine
Verlobte
!“
Ich heulte, und Erika sagte zu Gerda, sie solle mich nicht frotzeln und ob sie nicht sehe, wie unangenehm mir das sei und darüber stritten sie dann. Am nächsten Tag wurden Mutter und Vater von Erika belauscht, dann sprach sie von meiner
Verlobten
, und diesmal war es Gerda, die mich beschützte.
So berieten sich unsere Eltern im September 1969 drei Tage und drei Nächte lang über das Schicksal von Emma Olbach, bis sie schließlich folgenden Plan hatten: Mutter würde am Sonntag nach der Messe einfach Otília ausfragen. Schließlich wusste sie am besten über die Olbachs Bescheid. So viel wussten auch wir schon über Otília, dass sie früher einmal das Dienstmädchen der Olbachs gewesen war und seitdem samt ihrer Familie bei ihnen schmarotzte. Mutter würde also nach der Messe beim Eingang der Kirche auf Otília warten, sich vorstellen, mit
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