Liebe Unbekannte (German Edition)
hinterhergehen“, sagte ein Ungar. Ein älterer Anwalt.
„Geh doch, wenn das deinem Geschmack entspricht“, sagte ein anderer Ungar. Ein jüngerer Anwalt.
„Noch so ein Kommentar, und ich hau dir eine in die Fresse“, fuhr ihn der Erste an. „Pass auf, was du sagst. Weißt du, was für eine Frau das mal gewesen ist? Eine, wie du sie nie gesehen hast und auch nicht sehen wirst, denn solche Frauen gibt es heute gar nicht mehr.“
Und das Mitleid wurde sogleich vom Respekt gegenüber vergänglicher Schönheit abgelöst. Edit Perbáli kam jedoch nie wieder hinter diesem Hügel hervor.
Aber bis zu diesem Sonnenaufgang sollte noch ein gutes Vierteljahrhundert vergehen, und Emmas Mutter lächelte an diesem Ostermontag des Jahres 1976 in ihrer ganzen Schönheit vom Fernseher der Olbachs herunter, an ihrer Seite Emma, die beinah so schön war wie ihre Mutter. Neben diesem Bild stand auch schon Iváns Fotografie aus seiner Zeit als Soldat.
Wir blieben an diesem Abend lange bei den Olbachs, aber selbst Mutter hatte das Gefühl, wir seien ihnen nicht zu sehr zur Last gefallen.
„Aber wirklich, wie dieser Ervin zugenommen hat“, sagte Tante Mara sogar noch im Tor, als sie uns hinausbegleiteten. „Und wie plötzlich. Glaub mir, das hat etwas zu bedeuten. Damit müsste er mal zum Arzt. Ich habe nicht viele Menschen in meinem Leben gesehen, die so zugenommen haben wie Ervin. Seine ganze Persönlichkeit hat sich verändert.“
Sie hatte recht. Vielleicht hat sich noch nie ein Mensch so schnell so stark verändert wie Ervin Gál, nachdem die Umstände ihm bewusst gemacht hatten, dass er ein Schuft war. Das war noch Anfang der siebziger Jahre geschehen, aber Tante Mara hatte das bis heute nicht verdauen können. Er gewöhnte sich zum Beispiel das Rauchen ab. Und verwandelte sich innerhalb weniger Wochen von einem schmächtigen Literaturmenschen in einen übergewichtigen Tyrannen.
Aber seinen Platz auf Emmas Darstellerliste verlor er trotzdem nicht.
Später wurde Emma von den Kartenabreißern häufig schief angeguckt, weil es keinen Film gab, dessen Abspann sie sich nicht anschaute. Im Laufe der Zeit wurde dieser – vielleicht aus rechtlichen Gründen – immer länger, aber Emma ließ sich auch dadurch nicht davon abbringen, ihn sich bis zum Schluss anzusehen. Nie hätte sie auch nur einen Namen versäumt. Und auf ihrer eigenen Darstellerliste standen auch die Mitarbeiter der Korvin Bibliothek, wobei Emma nicht nur der Kontakt zu ihren Großeltern verboten war, auch die Bibliothek durfte sie nicht besuchen. Die Bibliotheksleute erfuhren nur von Onkel Olbach hin und wieder etwas über Emmas Entwicklung.
„Jetzt ist sie in die Schule gegangen“, raunte die Bibliothek, als Onkel Olbach im September 1970 erzählte, dass Emma in diesem Jahr endlich in die erste Klasse gekommen war.
„Jetzt lehnt sie sich auf“, sagte die Bibliothek mit einem Lächeln ein paar Jahre später.
„Jetzt kommen die Verehrer“, sagte sie, als wieder ein oder zwei Jahre vergangen waren.
Und so weiter. Bis Onkel Olbach in Rente ging.
Ja, eigentlich noch länger. Bis zu Tante Maras Beerdigung. Da war Emma bereits erwachsen. Damals gab es (darauf komme ich später noch zu sprechen) für kurze Zeit etwas mehr Nachrichten über Emma, ja, sie tauchte sogar selbst in der Bibliothek auf. Aber in der Nacht des Ostermontags von 1969 lag all das noch in ferner Zukunft.
8.
MEIN ERSTES TREFFEN
MIT DEM DÄMON
In dieser Nacht, der Nacht von Vaters Flucht, träumte Gerda, dass Vater Selbstmord beging, weshalb sie leise aufstand, sich hastig anzog und so schnell sie nur konnte die zwei Kilometer bis zum Pförtnerhäuschen der Konservenfabrik rannte. Sie rannte aus Überzeugung. Sie war eine geübte, gute Träumerin und stolz auf ihre Logik. Noch nie hatte sie einen Traum gesehen, der wortwörtlich in Erfüllung gegangen war, wenn also etwas ausgeschlossen war, dann Selbstmord. Aber ein Herzinfarkt zum Beispiel war überhaupt nicht ausgeschlossen, ein Einbruch auch nicht. Sie war sich sicher, dass Vater Hilfe brauchte.
Beim Rennen gingen ihr neben der großen Hauptsorge auch zwei kleinliche Nebensorgen durch den Kopf: Die eine war, dass sie Vater vielleicht schlafend antreffen würde. Sie konnte nichts dafür, aber es war nun einmal ein ernüchternder Gedanke, dass Vater als Nachtwächter schlief, dabei ahnte sie, dass es in dem kleinen Pförtnerhäuschen eine Schlafgelegenheit gab, da es in allen nur halbwegs anständigen Nachtwächterhäuschen eine
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