Liebe Unbekannte (German Edition)
sie die letzten Zeilen beinah immer furchtbar wütend sprach, war fast schon selbstverständlich.
Emma lernte viele Mietwohnungen und unzählige Arbeitsplätze kennen. In Budapest, auf dem Land und wieder in Budapest. Reisebüros und andere Büros, wo vorteilhaftes Aussehen und Fremdsprachenkenntnisse tatsächlich erforderlich waren. Und Verehrer der Mutter lernte sie ebenfalls reichlich kennen. Aber keiner erwies sich als endgültig. Edit war zu viel. Zu viel für die Männer. In ihrem ganzen Leben traf sie keinen einzigen, dem sie nicht zu viel gewesen wäre. Aber selbst als Stewardess war sie zu viel. Bei ihren Kolleginnen erweckte sie Neid und bei den Passagieren eine unerklärliche Angst. Selbst ohne Worte strahlte sie den Vorwurf aus, dass jemand, der in Ungarn in den sechziger Jahren in ein Flugzeug stieg, kein anständiger Mensch sein konnte, und die Leute, die in dieser Zeit flogen, sogar die Ausländer, ahnten auch, was diese wunderschöne Frau ihnen mit ihren grauen Augen sagen wollte. Denn für dieses Land war es nun aus, selbst der letzte Tourist wusste über Ungarn, dass es endgültig zu einer Provinz der Sowjetunion geworden war, und im Blick der Stewardess wähnten sie – ganz richtig – den vorwurfsvollen Blick des zermalmten Ungarns zu entdecken. Und selbst wenn mit Ungarn nichts Schlimmes geschehen wäre, hätte Edit diesen Blick gehabt, denn ihr Leben drehte sich um den Verlust ihrer Schönheit und diese Schönheit war tatsächlich so groß, dass sich ein ganzes Leben um ihren Verlust drehen konnte.
Sie war also für alle zu viel.
Dennoch gab es in Ungarn fünf Männer, ungefähr fünf, die Edit Perbáli würdig gewesen wären, aber diese und sie waren irgendwie immer aneinander vorbeigegangen. Nur einmal hatte sie geglaubt, den einen gefunden zu haben. Sie verliebte sich in Iván Olbachs Künstlertum. Dann kam Emma zur Welt. Bis dahin hatte sie stets geglaubt, dass man durch eine Geburt hässlich würde, und wenn eine Frau durch die Geburt nicht hässlich geworden sei, dann habe sie falsch geboren und zudem auch ihren Mann nicht ausreichend geliebt. Edit Perbáli machte die Geburt jedoch nicht hässlich. Edit machte noch lange Zeit nichts hässlich, wodurch die Gewissheit in ihr wuchs, dass sie eines Tages sehr hässlich werden müsse, aber sie dachte, was soll’s, ich stelle mich dem, was auf mich zukommt. Sie wartete auf das Hässlichwerden, solle es doch kommen, sie fürchte sich nicht. Sie trieb es sogar voran. Doch das Hässlichwerden ließ noch lange auf sich warten, daher sah sie selbst im Juni 2001 noch gut aus, als ihr alter Stolz in der Johannisnacht auf dem Puszta-Hügel neben Pomáz, wohin sie mit einigen hundert weiteren Neuheiden hinausgezogen war, noch ein letztes Mal aufflammte. Dieser Hügel ist ein alter und heiliger Ort, da unter ihm die Energielinien der Erde aufeinandertreffen. Bereits die Kelten erwarteten in der Nacht der Sommersonnenwende den Sonnenaufgang, ebenso wie später die Hunnen und die alten Ungarn. In den Jahrhunderten des Christentums geriet das alte Wissen in Vergessenheit, verschwand jedoch nie gänzlich. Irgendwann kam dann die Zeit, als die Anhänger des alten ungarischen Glaubens wieder auf dem Puszta-Hügel erschienen. Unter ihnen Edit Perbáli. Sie war mit einer Gruppe wohlsituierter Männer gekommen. Sie saßen auf Decken, tranken Bier und Szatmárer Pflaumenschnaps aus Plastikbechern, sangen und unterhielten sich die ganze Nacht über Chakren und Gesetzesänderungen. Es war schon ziemlich hell, als Edit plötzlich zu sich kam. Ihr wurde klar, dass sie gerade einer der Männer zu Tode beleidigt haben musste – denn sie hörte ihre eigene heisere Stimme, wie sie auf vulgäre Weise jemanden beschimpfte und die anderen dazu aufforderte, dieser Person einen gehörigen Tritt in die Eier zu verpassen, und alle lachten. Nicht über den Mann, sondern über sie. Edit wurde sich plötzlich bewusst, dass sie ein ausgemergeltes, altes Flittchen geworden war. Gleichzeitig spürte sie aber auch, dass sie zumindest nicht eingeschlafen war, auch jetzt noch im Schneidersitz auf der Decke saß, mit geradem Rücken, ihre Haltung also immerhin bewahrt hatte. Sie stellte das heisere Geschrei ein, stand auf und verließ kaum schwankend die Gesellschaft mit ihrem würdevollen, ehemals wunderschönen Gang und verschwand, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen, hinter dem Hügel. Das Lachen verstummte und Mitleid trat an seine Stelle.
„Wir sollten
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